Ganztagsschulen: Raum und Zeit „für anderes“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Grundschulpädagoge Dr. Michael Kirch von der Ludwig-Maximilians-Universität München konnte die Schulbaumesse in Kopenhagen besuchen. Er ist überzeugt: Schulbau muss sich an der Pädagogik orientieren.

Dr. Michael Kirch
Dr. Michael Kirch © privat

Online-Redaktion: Sie haben die Schulbaumesse in Kopenhagen besucht. Welche Erkenntnisse bringen Sie mit?

Dr. Michael Kirch: Bei meinen Schulbesuchen hier wurde mir eines noch einmal ganz bewusst: Es ist unglaublich wichtig, dass sich alle Beteiligten Gedanken darüber machen, was Schule will, wie Lehren und Lernen heute und in Zukunft aussieht beziehungsweise aussehen könnte … bevor abgewogen wird, was wie gebaut oder gestaltet werden soll.  „Hygge“ beschreibt in Dänemark ein Lebensgefühlt, das dänische Wohlbefinden. Schulen werden vor diesem Hintergrund gebaut.

Das erinnerte mich auch an die australische Schulentwicklungsexpertin Julia Atkin: Sie ließ Menschen, die sich fragen, wie sie Lehren und Lernen sehen, gerne ein Analogiebild malen. Sozusagen Schule, Lehren und Lernen ist so wie … Manche befragten Lehrkräfte zeichnen dann einen Gärtner, der Pflanzen zum Blühen bringt, andere einen Kaufladen mit Wissen, andere eine Reise durch die Welt. Anschließend fragen sich die Kolleginnen und Kollegen, ob ihr Bild ihrem Schulalltag entspricht und wie sie diesen gegebenenfalls besser gestalten können. Es ist wichtig, die Schülerinnen und Schüler in diesen Diskurs zu integrieren.

Online-Redaktion: Das heißt, wir brauchen ganz neue Schulen? Ist das realisierbar?

Kirch: Nein, entscheidend ist, dass alle an Schule Beteiligten sich im Austausch darüber befinden, welche Ziele sie erreichen wollen. Die Phase 0, die diese Phase beschreibt, setzt sich auch in Deutschland zunehmend durch.

Teile der Südinsel Neuseelands mussten eine besondere Phase 0 durchlaufen. Nach zwei Erbeben, 2010 und 2011, mussten viele Schulen neu gebaut werden. Neuseeland war gezwungen, sich zu fragen: Brauchen wir das Alte oder nutzen wir die Chance Neues zu schaffen? Das Land hat sich für das Neue entschieden, das am besten in dem Buch von Verena Hasel „Der tanzende Direktor“* beschrieben wird.

Online-Redaktion: Die kleine Insel Neuseeland mit ihren fünf Millionen Einwohnern ist mit Deutschland schwer zu vergleichen. Wie nutze ich alte Schulgebäude mit Klassenzimmern links und rechts des Flurs?

Beim Neubau über Pädagogik nachdenken ...
Beim Neubau über Pädagogik nachdenken ... © Britta Hüning

Kirch: Aus meiner Sicht müssen wir vor allem die Wände in unseren Köpfen einreißen. Dann ist viel möglich. Ein Neubau allein hilft nicht viel, wenn nicht zu Beginn über Pädagogik nachgedacht wird. 1991 war ich als Lehrer an einer Montessori-Schule in München. In den ersten Tagen des neuen Schuljahres haben wir das Klassenzimmer leergeräumt, haben uns über das gemeinsame Lernen ausgetauscht und dann erst Pläne gezeichnet und gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern und den Eltern neu eingerichtet. So wurde eine Galerie für die Leseecke eingebaut und auf der Grünfläche vor dem Klassenzimmer bauten die Kinder mit den Eltern kleine Holzhütten für das Lernen in Kleingruppen.

Online-Redaktion: Sie plädieren für klare Ziele und Wege und für eine starke Individualisierung. Was, wenn eine Schulleitung sagt: Dafür haben wir keine Zeit, kein Geld und kein Personal?

Kirch: Ich räume ein, dass die Situation für die Schulen durchaus problematisch ist. Ich weiß auch, dass es häufig nicht ausreicht, an einer Stellschraube zu drehen. Wenn ich an der „Schraube“ Raum drehe, muss ich gleichzeitig an der „Schraube“ Professionalisierung der Lehrkräfte drehen. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen … Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Schulleitung eine Initiative aus dem Kollegium nicht aufnimmt.

Online-Redaktion: Schulen stehen vor sich wandelnden Ansprüchen an das Lernen und Lehren. Wie sollen sie damit umgehen?

Kirch: Sie müssen lernende Institutionen sein beziehungsweise werden. Schule ist nie fertig. Sie sollte immer im Diskurs mit Gesellschaft stehen und Strukturen aufbauen, die es ermöglichen, mit dem Wandel umzugehen. Die Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe beispielsweise hat einen „Roten Salon“ eingerichtet. Er dient dem gemeinsamen Nachdenken und der Diskussion über die Weiterentwicklung der Schule.

Raum der Begegnung und der Beziehungen
Raum der Begegnung und der Beziehungen © Britta Hüning

Online-Redaktion: Angesichts der Fülle der Aufgaben wünschen sich Schulen oft Zeit zum Durchschnaufen, auch mal Ruhe, um Dinge ausprobieren zu können…

Kirch: Sie tun das völlig zu Recht. Mehr Selbstbestimmung der Schulen gäbe ihnen die Möglichkeit zum Ausprobieren, zum Innehalten … zur eigenen Entwicklung. Wir können unseren Schulen, den Schulleitungen und Lehrkräften vertrauen. Schule muss ein Raum der Begegnung und der Beziehung sein – erst dann wird Schule zu einem Raum der Bildung. Hier bietet der Ganztag weit mehr als nur „mehr Zeit“. Er bietet die Möglichkeit für „anderes“. Und dafür werden andere Räume gebraucht. 

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

* Verena Friederike Hasel: Der tanzende Direktor. Lernen in der besten Schule der Welt. Zürich: Kein & Aber 2019.

Zur Person:

Dr. Michael Kirch, Jg. 1963, ist seit 2011 Akademischer Rat am Institut für Grundschulpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Er war u. a. Grundschullehrer in München und im Landkreis Starnberg und von 2006 bis 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Grundschulpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität.

Seine Schwerpunkte sind u.a. Lehren und Lernen im Lernhaus und Medienpädagogik und Mediendidaktik in der Grundschule. Bis 2018 begleitete er das Projekt „Digitales Lernen Grundschule. Medienbildung kompetent vermitteln“ der Deutschen Telekom-Stiftung. Derzeit begleitet er das Kooperationsprojekt „Help & Learn. Studierende arbeiten in Münchner Kindertageseinrichtungen & Kooperativen Ganztagsschulen“ des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und -didaktik der LMU und des Referats für Bildung und Sport der Stadt München.

Veröffentlichungen u. a.:

Kirch, M. (2022) Können Schulleiter:innen in Deutschland tanzen? In: Grundschule, H. 5, S. 25-29.

Kirch, M. (2016) Lehr- und Lerntechnologien – Anspruch und Wirklichkeit. In: Großkurth, E.-M., Handke, J. (Hg.), Inverted Classroom and Beyond. Lehren und Lernen im 21 Jahrhundert, 4. ICM-Fachtagung an der Philipps-Universität Marburg. Marburg: Tectum Verlag, S. 165-178.

Kirch, M. (2016) Klassenraumgestaltung für innovative Lernprozesse mit digitalen Medien. In: Peschel, M. & Irion, T. (Hg.), Neue Medien in der Grundschule 2.0., Grundlagen – Konzepte – Perspektiven. Frankfurt am Main: Grundschulverband, S. 91-101

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