Ernährung als Klassenfrage : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Die Bildungschancen vieler Kinder und Jugendlichen werden durch Kinderarmut und schlechte Ernährung teilweise irreparabel beeinträchtigt. Kann und soll die Schule als Ort der Sozialintegration diese Defizite kompensieren oder ist sie damit überfordert? Die Fachtagung "Schulen gegen Kinderarmut. Ernährung als Klassenfrage", die am 20. und 21. November 2008 in Hamburg stattfand, versuchte Antworten zu geben, die der Politik und den Schulen helfen.

"Eigentlich sind die meisten Kinder doch überaus fröhliche Naturen", meinte ein pensionierter Lehrer, als er auf die Kinder angesprochen wurde, die in mehrfacher Hinsicht durch Armut benachteiligt sind. Statt seinen Ruhestand ungestört zu verbringen, engagiert er sich der Pädagoge beim Kinderschutzbund. Die armen Kinder möchte er nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.
"Kinder aus armen Familien haben eine geringere Lebenserwartung", weiß auch Ursula Mayer-Timpe, Redakteurin der ZEIT und Autorin des Buches "Unsere armen Kinder. Wie Deutschland seine Zukunft verspielt". Armut bedeute hungrig in die Schule zu kommen, sich falsch zu ernähren, pausenlos fern zu gucken, keinem Sportverein anzugehören, wenige Freunde zu haben oder durch die Eltern vernachlässigt zu werden. Mit anderen Worten: Armut ist eine mehrdimensionale, vielschichtige Lebenslage, die sowohl zur Bildungsbenachteiligung beiträgt als auch zum ungesunden Lebenswandel der Kinder und Jugendlichen.
Ist Kinderarmut eine Klassenfrage?
Die Veranstalter der Heinrich-Böll-Stiftung rückten dementsprechend das Thema "Schule gegen Kinderarmut - Ernährung als Klassenfrage" am 20. und 21. November 2008 in den Mittelpunkt einer Fachtagung. Sie war mit Bildungssenatorin Christa Goetsch, der Bundestagsabgeordneten Krista Sager sowie namhaften Repräsentanten aus Wissenschaft und Schule sehr gut besetzt.

Das Thema Kinderarmut und Ernährung geht alle an: "Kinderarmut ist eine Klassenfrage: arme Kinder essen nicht nur ungesünder, ihnen mangelt es auch an sozialen Kompetenzen und Selbstvertrauen", hob Ralf Fücks zum Auftakt der Veranstaltung hervor. Der Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung sah raschen Handlungsbedarf. Drei Fragestellungen sollten im Mittelpunkt der Fachtagung stehen. Neben einer analytischen Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation ging es darum, die Herausforderungen zu diskutieren, die sich für die Politik im Bund und den Ländern stelle sowie die Angebote und präventiven Maßnahmen zu erörtern, die die Schulen und ihre Verbündeten einbringen können.

"Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch ein hohes Maß an sozialer Ungleichheit aus", erklärte der Familiensoziologe Prof. Hans Bertram von der Humboldt-Universität Berlin eingangs seines Vortrags. Welche Rolle könne die Schule bei der Verminderung der Faktoren spielen? Je differenzierte ein Schulsystem sei, umso sicherer produziere man Reste. "Das deutsche Bildungssystem hinkt 25 Jahre hinter dem Rest der Welt zurück. "Man kann das statistisch zeigen."
"Deutschland ist absoluter Zuwanderungsgewinner"
Die Bundesrepublik ist aber auf einem ganz anderen Gebiet internationaler Spitzenreiter: "Deutschland ist in den Jahren zwischen 1990 und 2000 der absolute Zuwanderungsgewinner." Dass die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem keinen Erfolg erzielten, sei auch Folge einer Migrationspolitik, die keine Migrationspolitik sein wolle.
Die besten Schulen müssten in den benachteiligten Stadtvierteln sein. Allerdings müssten sich die Schulen nicht jeden Schuh anziehen, der ihnen hingestellt wird: beispielsweise durch die Migrationspolitik. Die Abwanderung deutscher Eltern aus solchen Stadtvierteln sei allerdings ein Trend, der nur schwer zu stoppen sei.

Die relative Kinderarmut hat in Deutschland hingegen abgenommen, erläuterte der Wissenschaftler zur Überraschung seiner Zuhörer. Sie sei insbesondere in den ostdeutschen Ländern aufgrund der Vollerwerbstätigkeit der Mütter geringer. "Die Schule kann Kinderarmut nicht bekämpfen, aber sie kann Angebote machen." Allerdings seien die Probleme nicht durch Geld allein zu lösen, sondern über neue Formen der Teilhabe. Die Gewährung von Sozialhilfe, wie sie in Deutschland gehandhabt werde, sei paternalistisch, während in den angelsächsischen Ländern der Fokus auf dem Erwerbseinkommen der Eltern liege.
Wie ist die Kinderarmut ökonomisch verteilt?
Die gesellschaftliche Modernisierung macht aber vor der Bundesrepublik nicht halt. So nimmt laut Bertram in allen Ländern der Anteil an allein erziehenden Eltern zu. In Berlin betrage er bereits 50 Prozent. "Man braucht heute aber zwei Einkommen, um einen Haushalt managen zu können", fügte der Familiensoziologe hinzu. In Bremen sei der Anteil der Eltern besonders hoch, wo beide nicht erwerbstätig sind. Das eigentliche Problem warte auf die Eltern ab dem dritten Kind, hier gäbe es in allen Ländern einen Rückgang der Erwerbstätigkeit der Eltern.
"Wir werden das Problem erst lösen, wenn Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam das Geld investieren, das notwendig ist." Der Bund müsse aber nicht mehr Geld in die Hände nehmen, er müsse es nur anders organisieren. "Die Transfers müssen sich an der ökonomischen Situation der Kinder orientieren."

An den Vortrag von Prof. Bertram schloss sich eine interessante Podiumsdiskussion an. So äußerte die Hamburger Bildungssenatorin Christa Goetsch gegenüber dem Familiensoziologen ihre Dankbarkeit dafür, dass laut seiner Aussage die Schulen nicht für alles die Verantwortung übernehmen müssten. Allerdings verstärke das viergliedriger deutsche Bildungssystem die Auswirkungen der Armut.
Arbeitsmarkt, Demographie, Migration und Stadtteilpolitik
"Ernährungsfragen spielen eine zentrale Rolle in sozial benachteiligten Vierteln", stellte die Bildungssenatorin fest. Sie setzte sich dafür ein, das Geld gezielt dort zu investieren, wo die sozialen Benachteiligungen vorhanden sind. An 60 Grundschulen wolle die Bildungsbehörde ein Education Programm anbieten, dass jungen Eltern eine Erziehungsberaterin zur Seite stellt und sie auch zum Kochen animiere.

Ein überzeugendes Beispiel, wie soziale Benachteiligung und die Ernährungssituation ausgeglichen werden kann, ist die Clara-Grundwald-Schule in Neu-Allermöhle in Hamburg. Die integrative Grundschule wurde für ihre Leistungen für den Deutschen Schulpreis 2006 nominiert. Dabei besaß sie denkbar schwierige Ausgangsbedingungen, da im Umfeld der Schule aufgrund "falscher Städteplanung" rund 80 Prozent Sozialwohnungen vorhanden sind, so Schulleiterin Angelika Fiedler.
"Hier machen wir gute Schule"
Das Kollegium war sich mit seiner Schulleiterin einig: "Hier machen wir gute Schule". An der Schule wird "Vielfalt als Chance" begriffen und die Klassen werden jahrgangsübergreifend unterrichtet. Da ferner behinderte Kinder mit nicht behinderten gemeinsam lernen, kümmern sich die Klassenlehrer in Kooperation mit Sozialpädagogen und Erziehern um die einzelnen Kinder. Hochbegabte Kinder können an der Grundschule Japanisch lernen oder an der Mathematikolympiade teilnehmen.

Ohne die Kooperation mit den Eltern wäre die Schule nicht so weit gekommen. Elternarbeit, so Fiedler, sei besonders wichtig. Ein zusätzlicher Aspekt des Gelingens ist das Mittagessen, das die Schule im Rahmen des Ganztagsschule für alle Kinder anbietet. Auch hier kommt die Vielfalt dadurch zum Tragen, dass die Eltern der Kinder etwa zu Neujahr ihre Küche in der Schule präsentieren.
"Wir geben den Kindern etwas mit, das zwar nicht das Einkommen der Eltern ausgleicht, aber Zufriedenheit im Leben auch bei geringen Mitteln ermöglicht", so die Schulleiterin. Dies veranlasste Hans Bertram, eine Parallele zu Finnland zu ziehen. Dort gäbe es ein einheitliches Schulsystem, aber eine Vielzahl an Angeboten: "Die Schule ist hier ein Ort der Integration und Teilhabe."
Schule braucht Verbündete: "Das Problem ist komplex"
Das Hamburger Netzwerk für Schulverpflegung, das die Schulen auf ihrem Weg zu gesunden Schulen unterstützt, greift auch den Gedanken der Elternarbeit auf, in dem es sie über gesunde Ernährung informiert, so Dieter Wilde. Es wende sich an die Schulen, indem es sie über Projekte oder über die Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung informiert. "Wichtig ist ein bezahlbares Angebot", das für die Schulen einzeln ausgehandelt werden müsse.

Ralf Fücks hielt zum Abschluss der Diskussion wichtige Strukturgrößen fest, auf die Schulen keinen Einfluss haben: Arbeitsmarkt, Demographie, Migration sowie die Stadtteilpolitik. "Das Problem ist komplex", befand der Politiker. So seien die Koordinaten sehr unterschiedlich und es gäbe verschiedene Anreize wie kostenlose Ernährung versus Transfererhöhungen über höheres Kindergeld oder höhere Regelsätze bei den Sozialleistungen der Kinder. Von zentraler Bedeutung sei aber die Erkenntnis: "Die Schule kann die Kinderarmut nicht allein überwinden, sie braucht dafür Verbündete."
Ganzheitliche Schulverpflegung als idealer Ansatz
Neuere wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass über die Schulverpflegung positiv Einfluss auf die Ernährung von Kindern und Jugendlichen genommen werden kann. Die Expertin auf diesem Gebiet, Prof. Ulrike Arens-Azevedo von der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg, stellte dafür die Ergebnisse internationaler und nationaler Studie "Strukturanalyse der Schulverpflegung" vor.
Ein auffälliges Essverhalten, so die Wissenschaftlerin, korreliert mit der sozioökonomischen Schicht: "Es gibt viel häufiger Essstörungen unter den armen Kindern." Die Situation werde noch dadurch verschärft, dass ein ungünstiges Essverhalten durch ein ungünstiges Bewegungsverhalten ergänzt wird. "Aufgrund dieser Parameter ist die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung höher", so Arens-Azevedo.

Die Schulverpflegung sei ein aktiver Beitrag zur gesunden Ernährung der Kinder und Jugendlichen, sie mache oft bis zu 40 Prozent der täglichen Energie- und Nährstoffaufnahme aus. "Die Schule ist der ideale Ort, um Verhaltensänderungen zu bewirken und auf die Verhältnisse einzuwirken." Hier sprechen die steigenden Zahlen der Ganztagsangebote für sich: im Jahr 2005 hätten 1,3 Mio. Schülerinnen und Schüler von 8,7 Mio. an dem Ganztagsbetrieb teilgenommen - Tendenz steigend.
Bezuschussung zum Mittagessen erforderlich
Das zentrale Problem sei aber die Akzeptanz der Mittagsverpflegung. Ein besserer Service in Gestalt eines freundlichen Küchenpersonals oder Lehrkräften, die beim Mittagessen bei den Kindern sind, würde dieses Problem beheben können. Da die Schulverpflegung eine Langzeitverpflegung sei, könne sie das Ernährungsverhalten nachhaltig prägen. Allerdings sei die Bezuschussung zum Mittagessen, die in den Ländern und Gemeinden unterschiedlich gehandhabt werde, zwingend erforderlich. Immerhin werde es im Rahmen des Nationalen Aktionsplanes bis Ende 2009 in jedem Land eine Vernetzungsstelle für Schulverpflegung geben.

Eine Vorreiterrolle in Sachen Bezuschussung des Mittagessens nimmt die Kommune Stuttgart ein. Angesichts von 10.000 Kindern, die unter der Armutsgrenze leben, habe es Druck auf die Politik gegeben, so Dr. Ursula Matschke, Leiterin der Stabsstelle für individuelle Chancengleichheit von Frauen und Männern. Ein Verantwortungsnetz, in dem Vertreter der Politik, Schulen sowie Eltern zusammenarbeiten, habe sich für den Community-Gedanken eingesetzt. Im Zuge ihres Engagements haben sie erreicht, dass 16 Ganztagsschulen sich an dem Netzwerk beteiligen. Ein Mittagessen koste lediglich ein Euro.
Ein Grundrecht auf gute Verpflegung?
"Die Kinder haben ein Grundrecht auf gute Verpflegung", betonte Michael Jäger von Vernetzungsstelle Schulverpflegung Berlin. Man müsse die Exekutive über gesetzliche Regelungen verantwortlich machen. "Wir können uns jedenfalls nicht leisten, dass die Schulverpflegung eine private Sache ist." Berlin sei immerhin das erste Land, das Qualitätskriterien eingeführt habe.
Allerdings sei die Akzeptanz der Schulverpflegung dort ein gravierendes Problem. Es müsse pädagogisch begründet und gesetzlich sichergestellt werden, dass die Mittagsverpflegung zum Ganztag gehöre. Ferner müsse der Schulträger die Schulen unterstützen und nicht bevormunden.

"Es ist widersinnig: wir haben immer weniger Kinder, aber die sind immer ärmer", kritisierte Prof. Thomas Olk von der Universität Halle-Wittenberg zum Abschluss der Veranstaltung. Dass acht Prozent eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss verlassen, sei ein Verstoß gegen das Recht auf Bildung. Der Erziehungswissenschaftler warnte vor erschöpften Familien, die in einem resignativen Kreislauf geraten.
"Ein Mix aus Sach-, Geld- und Dienstleistungen"
Gegenwärtig würden 2,2 Mio. Kinder unter 18 Jahren auf der Basis von Hartz IV leben. In mancher ostdeutscher Stadt sei es sogar jedes zweite Kind. Armut sei eine multidimensionale Deprivationslage, die einen Maßnahmen-Mix aus Sach-, Geld- und Dienstleistungen erfordere. Gelingensbedingungen seien die Verbesserung der Qualität der frühkindlichen Bildung sowie des Unterrichtes.

Schulen sollten zu Zentren werden, in denen die formale und nonformale Bildung verknüpft werde. Dass Kinder heute eine große Bedeutung spielen, sei allerdings eine Bewusstseinsrevolution. Auch für die Bundestagsabgeordnete Krista Sager ist der demographische Wandel dramatisch: "Die wenigen jungen Menschen müssen für immer mehr ältere sorgen, einschließlich der acht Prozent der Jugendlichen, die bereits abgehängt wurden." Für Prof. Dr. Ines Heindl vom Fachbereich Gesundheit und Ernährung der Universität Flensburg ist die Gesundheitskrise daher auch eine verkannte Bildungskrise, in deren Mittelpunkt materielle und soziale Ernährungsarmut stehe.
Demgegenüber sei für die Kinder und Jugendlichen eine positive Körperwahrnehmung und körperbezogene Identität sehr wichtig. Allerdings hätten sozioökonomische Aspekte und Faktoren wie Familie (Gewohnheiten), Armut (Präventionsresistenz) und Bildung (Medienkonsum) kontraproduktive Auswirkungen auf die Bildungschancen vieler Kinder und Jugendlichen. Man müsse vor diesem Hintergrund Allianzen für Bildungsqualität und Gesundheit schmieden: "Es ist wichtig der Politik zu vermitteln, dass sich ihr Engagement für gesunde Ernährung und Bekämpfung der Kinderarmut lohnt."
Kategorien: Ganztag vor Ort - Mittagessen und Schulverpflegung
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