Mannschaftsspieler statt Einzelkämpfer : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die erfolgreichen skandinavischen Schulen machen es vor, Ganztagsschulen entdecken eine alte Idee neu: Das Lernen in Tischgruppen. In leistungsmäßig heterogen besetzten Gruppen sollen Schülerinnen und Schüler zu Selbst- und Mitbestimmung befähigt werden. Lehrerinnen und Lehrer können die Lernprozesse ganzheitlicher betrachten. Die Integration geht dabei über den Unterricht hinaus.

Die skandinavischen Schulen, die in den PISA-Studien hervorragend abgeschnitten haben, geben auch dem deutschen Schulsystem neue Impulse. Fächer- und jahrgangsübergreifendes Lernen werden selbstverständlicher, das Bemühen um Vernetzung und Ganzheitlichkeit größer. Ein integratives Mittel innerhalb des Unterrichts, das es Lehrerinnen und Lehrer ermöglichen soll, die Lernprozesse ihrer Schülerinnen und Schüler ganzheitlicher zu sehen, sind die so genannten Tischgruppenmodelle, die in immer mehr Schulen eingeführt werden.

Tischgruppe

Die Idee, Kinder und Jugendliche von unterschiedlicher Leistungsstärke an einem Tisch zusammen lernen zu lassen, ist dabei nicht neu. Im Zuge der Reformdebatten der siebziger Jahre wurde es unter der Bezeichnung Team-Kleingruppenmodell (TKM) entwickelt und als alternatives Gesamtschulkonzept entworfen. Das Lernen in den Tischgruppen soll mehr Chancengleichheit, bessere individuelle Fördermöglichkeiten und günstigere Voraussetzungen für soziales Lernen ermöglichen. Zum pädagogischen Konzept gehört aber auch, dass sich alle Schülerinnen und Schüler in gleicher Weise entfalten können und lernen, solidarisch miteinander umzugehen.

An der nordrhein-westfälischen Gesamtschule Brüggen ist das Tischgruppenkonzept zum Schuljahr 2002/2003 im Schulprogamm festgeschrieben worden, nachdem es einige Jahre bereits als Modell erprobt worden war. Die Hauptmotivation für die Einführung ist laut Lehrerin Elke Warmbt-Hock das Erlernen von Teamfähigkeit, "einem zentraler Schlüsselbegriff nicht nur in der Schule, sondern vor allem auch in der Arbeits- und Lebenswelt".

Vier Regeln zur Tischgruppenbildung

Zusammen mit drei weiteren Kollegen bildet die Lehrerin das Tischgruppentrainerteam. In den Tischgruppentrainings lernen Schülerinnen und Schüler der 5. Klasse mit unterschiedlichem Leistungsvermögen und unterschiedlichen familiären Voraussetzungen, aufeinander einzugehen. In fünf Sitzungen während des Tischgruppentrainings eignen sich die Kinder an, Eigenverantwortung zu übernehmen und sich selbst wie andere ernst zu nehmen. Sie lernen dies durch Anwendung der im Klassenverband erarbeiteten Gesprächsregeln, respektvollen Umgang und Kommunikation und das Übernehmen der Gesprächsleitung. Innerhalb ihrer Gruppe können sie Probleme benennen und selbstständig besprechen. Sie lernen, Arbeitsabläufe zu koordinieren und Entscheidungen in einem vorgegebenen Zeitrahmen zu erbringen.

"Die Kinder kommen in der Regel sehr gerne in die Trainingsstunden, sind mit großer Ernsthaftigkeit dabei, und die meisten bemühen sich, das Gelernte im Unterricht und im Miteinander auch umzusetzen", erklärt Elke Warmbt-Hock. "Die Trainingsphase im 5. Schuljahr ist nur ein Baustein des gesamten Tischgruppenkonzeptes. Wesentlich ist die Umsetzung des Gelernten im Unterricht. In den Klassen, in denen eine enge Verzahnung des Konzepts mit der Unterrichtsarbeit durch die Klassenlehrerinnen und -lehrer stattgefunden hat, werden die Chancen eines deutlich entspannteren Lernens durch die hohe Eigenverantwortlichkeit der Kinder geschätzt."

Aber wer entscheidet, welche Kinder in einer Tischgruppe für mindestens ein Schuljahr zusammensitzen? In der Gesamtschule Brüggen erarbeiten die Tischgruppentrainer einen Vorschlag, der mit den Klassenlehrerinnen und -lehrern abgestimmt wird, die letztlich die Entscheidung über die Zusammensetzung der Tische treffen. Zur Tischgruppenbildung gehören dabei laut Elke Warmbt-Hock vier Regeln: "Eine Tischgruppe besteht aus vier beziehungsweise fünf Schülerinnen und Schülern. Jede Schülerin und jeder Schüler gehört seiner Gruppe fest an. Jede Tischgruppe besteht aus Schülern, die Hilfe brauchen, und solchen, die diese leisten können. Die Tischgruppen bleiben über eine längere Zeit bestehen."

Arbeitsfähigkeit der Gruppe entscheidend

In der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule in Göttingen ist das Procedere der Gruppenfindung etwas anders organisiert. Hier können die Schülerinnen und Schüler zu Beginn des Schuljahres selbst auswählen, mit wem sie an einem Tisch sitzen wollen, wobei es hier bis zu je sechs Kinder und Jugendliche pro Tischeinheit sind. "Sechsertische sind ideal", hat Schulleiter Wolfgang Vogelsaenger beobachtet. Die Schülerinnen und Schüler legen Zettel mit ihren Namen auf einen Tisch, andere legen ihre Namen zu denen, mit der oder dem sie gerne in einer Gruppe lernen möchten.

Die zwei Klassenlehrerinnen und -lehrer, die so genannten Tutoren, begleiten diese Gruppenfindung, die durchaus über mehrere Wochen dauern kann und bereits einen spannenden Lernprozess darstellt, da die Kinder und Jugendlichen reflektieren und diskutieren, welche Kombinationen in der Gruppenarbeit wohl funktionieren werden und welche nicht. Die Tutoren greifen nur dann ein, wenn die erstrebte Heterogenität der Tischgruppe nicht im erwünschten Maße gegeben ist oder eine Entscheidung zu lange auf sich warten lässt. "Bisher hat es noch immer funktioniert", berichtet Vogelsaenger. In der IGS Göttingen achtet man auch darauf, dass Mädchen und Jungen ausgewogen in den Gruppen vertreten sind und jeder mindestens einen Wunschpartner in seiner Gruppe findet. "Entscheidend ist, dass die Gruppe arbeitsfähig ist - dann hat sie die richtige Zusammensetzung", erklärt der Schulleiter.

Für ihn liegen die Vorteile des Tischgruppenmodells auf der Hand: "Man lernt am besten selbst, wenn man anderen etwas beibringt. Das gemeinsame Lernen stärkt dazu das Zugehörigkeitsgefühl und die Identität eines Teams", so Vogelsaenger. "In den Tischgruppen sind alle Cliquen aufgehoben, was zu einer besseren Schulatmosphäre beiträgt, denn wo weniger Angst und Aggression herrschen, ergeben sich auch bessere Lernleistungen."

Tischgruppenabende mit den Eltern erleichtern die Arbeit

Das Modell der Tischgruppen weist auch über den Unterricht hinaus. An den Tischgruppenabenden treffen sich die sechs Schülerinnen und Schüler mit den beiden Tutoren und den Eltern zweimal pro Schulhalbjahr in den Elternhäusern. Hier lassen alle Revue passieren, was die letzten Monate gebracht haben, was gut, was weniger gut lief, welche Probleme auftraten und wie man sie lösen kann. Besonders gute Arbeitsergebnisse werden präsentiert und ein erster Blick auf neue Unterrichtseinheiten gewagt. Auch die nächste Klassenfahrt und andere gemeinsame Aktivitäten werden geplant. Es besteht die Möglichkeit, Fragen zu stellen, Anregungen zu geben, Kritik zu üben. "Die Gründe für so manches Problem der Schüler kann man bei ihnen zu Hause erkennen", erzählt Wolfgang Vogelsaenger. "An diesem Punkt sollte man als Schule nicht sparen. Die Tischgruppenabende erleichtern die Arbeit."

Und sie ermöglichen allen Beteiligten wiederum soziales Lernen und stärken das Gemeinschaftsgefühl als Gruppe. Ulrich Holefleisch erläutert aus Elternsicht: "Man lernt dort soziale Milieus und Berufe kennen, die einem sonst verschlossen blieben. Das ist ungeheuer spannend."

Wie es um die Zufriedenheit der Schülerinnen und Schüler in den Tischgruppen bestellt ist, hat eine Untersuchung an der IGS Göttingen im Rahmen des Aktionsprogramms der Europäischen Kommission zur Bekämpfung von Diskriminierungen aufgezeigt. Die befragten Sechstklässler äußerten ebenso wie die befragten Neuntklässler eine hohe Zustimmung zum Tischgruppenmodell. Vor allem bildete sich im Vergleich der Jahrgangsklassen eine ermutigende Entwicklung ab: "Es zeigt sich eindeutig, dass das Konzept, miteinander zu arbeiten und dabei auch auf die Kompetenzen der Anderen zurückzugreifen, funktioniert."

Chancengleichheit der Geschlechter

Die Tischgruppen sollen den Erwerb sozialer Kompetenzen befördern, hauptsächlich aber natürlich das Lernen verbessern. Die befragten Lehrerinnen und Lehrer sahen diesen Effekt ebenfalls als gegeben. Besonders in der neunten Klasse seien einige Schülerinnen und Schüler nur durch die Gruppenmotivation zum Real- oder Hauptschulabschluss gebracht worden.

Das selbstständige Lösen von Aufgaben in der Tischgruppe wird in der IGS Göttingen von vielen anderen Maßnahmen flankiert: Die feste Zuordnung von Lehrerinnen und Lehrern zu einzelnen Jahrgängen, der Frei- und Wochenplanarbeit, dem Verfassen von Lernentwicklungsberichten statt Noten. In die Lernentwicklungsberichte geht neben den schulischen Leistungen auch das soziale Verhalten ein. Schülerinnen und Schüler können sich hier jederzeit informieren, wo ihre Stärken und Schwächen liegen und wo sie sich verbessern können. Dass sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in der Tischgruppenarbeit verbessern und gleichzeitig die Zufriedenheit aller Beteiligten steigt, macht diese Art des gemeinsamen Lernens in der Gesamtschule so attraktiv. Nur rund 15 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler gaben an, "lieber alleine" lernen zu wollen.

Die Gesamtschule Emsland im niedersächsischen Lingen setzt ebenfalls auf das Tischgruppenmodell. Hier steht die Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern als Motivation im Hintergrund. In einem Förderantrag der Schule heißt es: "Kreativität und Problemlösungsverhalten besitzen in geschlechtlich gemischten Gruppen mehr Tragfähigkeit. Dies findet sich als Voraussetzung im Tischgruppenmodell unseres Schulprofils mit heterogener Zusammensetzung leistungs- und geschlechtsspezifisch wieder." Auch diese Gesamtschule Emsland bindet die Eltern mit Tischgruppenabenden in das Schulleben ein.

An der Konrad-Adenauer-Schule, einer Regionalen Schule im rheinland-pfälzischen Vallendar, die seit dem letzten Schuljahr teilgebundene Ganztagsschule ist, erprobt man zurzeit ebenfalls das Tischgruppenmodell. Auf der Website der Schule heißt es dazu: "Hier lernen Schülerinnen und Schüler selbständiges Arbeiten, das Eingehen auf den Tischnachbarn, Arbeitstechniken, die das Lernen erleichtern, und Sozialformen, die den Umgang mit den Mitmenschen einfacher machen". Qualitäten, die in der Wissensgesellschaft immer wichtiger werden.

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