Ganztagsschule inklusiv gestalten : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Im internationalen Vergleich haben Deutschlands Schulen einen immensen Aufholbedarf bei der inklusiven Bildung. Die Tagung „Vielfalt gewinnt – Ganztagsschule inklusiv gestalten“ am 24. September 2013 im rheinland-pfälzischen Oberwesel machte die Herausforderungen, aber auch Lösungsmöglichkeiten sichtbar.

Als Klaus Großmann 2003 die Leitung der Brüder-Grimm-Grundschule in Ingelheim übernahm, traf er auf ein „zweigespaltenes Kollegium, plus Splittergruppen“. Die Gespaltenheit konnte man bereits besichtigen, wenn die verschiedenen Gruppen fein säuberlich voneinander getrennt ihre Pausen verbrachten. „Teambildung war das Wichtigste“, erkannte Großmann bei seinem Dienstantritt.

Der Anlass für die Spaltung war schnell gefunden: 2001 war die Brüder-Grimm-Schule auf Betreiben der damaligen Schulleitung gegen den Willen des Kollegiums und des Schulelternbeirats zur Schwerpunktschule, an der integrativ gelernt wird, geworden. Ein Teil der Lehrkräfte fühlte sich überfordert oder stand dem Konzept sehr skeptisch gegenüber.

Doch in zahllosen Gesprächen und bei der Diskussion über die Ergebnisse eines anonymisierten Fragebogens stellte sich heraus, dass es weniger die Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf waren, die für das Gefühl der Überforderung sorgten, sondern verhaltensauffällige Kinder. „Wir tun immer so, als gebe es homogene Klassen plus Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen“, gibt Klaus Großmann zu bedenken, „dabei sind die Klassen auch so schon vollkommen heterogen.“

Erfolgsrezepte und Sackgassen

Die Tagung ermöglichte den Austausch der Teilnehmenden nicht nur in den Pausen © Carolin Schmidt, DKJS

Zehn Jahre später sitzt Klaus Großmann auf der Fachtagung „Vielfalt gewinnt – Ganztagsschule inklusiv gestalten“ der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Rheinland-Pfalz am 24. September 2013 in der Jugendherberge Oberwesel und kann seine Schule, die seit 2011 auch offene Ganztagsschule ist, in einem Workshop als ein Positivbeispiel für integratives Lernen präsentieren. Von „banalen Maßnahmen, dass ich mich jede Pause ins Lehrerzimmer gesetzt habe, um dadurch besser ins Gespräch zu kommen“ über „sehr zeitaufwendige“ regelmäßige Mitarbeitergespräche bis zum Bilden von festen Jahrgangs- und Klassenteams, „was uns richtig weitergebracht hat“, haben viele Maßnahmen zu diesem Erfolg geführt. „Gerade in den Stufenteams sind die Projekte entwickelt worden, für die wir bekannt sind wie die Atelierarbeit oder die Kompetenzraster“, berichtet Großmann.

Manche Wege stellten sich auch als Sackgassen heraus: „Ich habe vier Kolleginnen und Kollegen fünf Deputatstunden gegeben, von denen sie eine Stunde Material zum differenzierten Lernen zusammen stellen sollten. In den anderen vier Stunden saßen sie im Unterricht von Kolleginnen und Kollegen, um diese bei der Diagnostik zu unterstützen und Tipps zu geben. Das fuhr völlig vor den Baum – einige haben sich bevormundet gefühlt.“ Inzwischen arbeiten die Lehrkräfte gemeinsam mit Förderlehrkräften oder Sonderpädagogen immer gemeinsam in der Klasse. „Es hat manche Kollegen gegeben, die nicht damit klargekommen sind, nicht mehr alleine in der Klasse zu unterrichten“, berichtete Großmann. „Denen mache ich keinen Vorwurf, denen bin ich nicht böse – es ist dann einfach so.“

Großmann hat einige grundlegende Erkenntnisse aus diesen zehn Jahren Schulentwicklung gewonnen, in denen die Brüder-Grimm-Schule zu einer Art Vorzeigeschule in Sachen Integration gewachsen ist, die von vielen Interessierten besucht wird: „Alles was wir von den Schülerinnen und Schülern erwarten – Kommunikation, Teamfähigkeit und demokratisches Handeln – müssen wir auch vorleben. Und man muss vor Ort entscheiden, was das Beste für die eigene Schule ist. Patentrezepte gibt es nicht, und man sollte nicht lange rumfragen, sondern einfach loslegen. Und dazu muss man sich viele Verbündete und Mitstreiter suchen und Netzwerke bilden.“ Es liege ihm eigentlich gar nicht zu klappern, meint der Schulleiter, aber um sich als Schule weiterzuentwickeln, gehöre es einfach zum Handwerk.

Deutschland in Europa Schlusslicht bei Inklusion

Die Ganztagsschule nutzen Großmann und sein Team, um „alles aufzubieten, was möglich ist“: Logopäden, Ergotherapeuten, eine Schulsozialarbeiterin an vier Wochentagen, das Jugendamt, das in der Schule eine Sprechstunde eingerichtet hat, oder die Familienhilfe, die im Gebäude untergebracht ist, sind inzwischen integriert.

Zehn Jahre nach Großmanns Dienstantritt in Ingelheim hat sich die Diskussionslage insgesamt verändert: Nun geht es nicht mehr nur um Integration, sondern um Inklusion, die auch gesetzlich verankert ist. Der Ministerratsbeschluss vom 15. Januar 2013 hat die Wahlfreiheit der Eltern bei der Schulwahl bestimmt, die zum 1. August 2014 greift. „Inklusion bedeutet, dass alle Kinder den eigenen, für sie passenden Lernweg finden – unabhängig davon, wie ihr kultureller Hintergrund aussieht oder aus welchem Elternhaus sie kommen, ob sie eine Behinderung haben oder wo ihre persönlichen Stärken und Schwächen liegen“, lautet die Formulierung beim Schulentwicklungsprogramm „Gemeinsam klasse“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS).

Für Matthias Rösch, den Landesbeauftragten für die Belange behinderter Menschen in Rheinland-Pfalz, sind diese gesetzlichen Weichenstellungen lange überfällig, wie er in seinem Grußwort deutlich machte: „Im Vergleich mit anderen Ländern sind wir hintendran beim Thema Inklusion in der Schule. In Großbritannien besuchen zum Beispiel 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen die Regelschulen, was zu einer spürbaren Normalisierung des Umgangs mit Behinderten im späteren Leben geführt hat. In Deutschland liegt die Inklusionsrate dagegen bei lediglich 25 Prozent.“ Damit ist man in Europa gemeinsames Schlusslicht mit Belgien. Schwerpunktschulen und Inklusion sind Rösch zufolge der richtige Weg, diese Rate zu steigern.

Prozess über Jahrzehnte“

Referatsleiter Johannes Jung (2.v.r.) und Matthias Rösch, Landesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen in Rheinland-Pfalz, im Gespräch mit Teilnehmerinnen © Carolin Schmidt, DKJS

Johannes Jung, der im Bildungsministerium für Inklusion zuständige Referatsleiter, erwartet, dass bis zum Ende der Legislaturperiode 2016 rund 40 Prozent aller Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf in Inklusionsklassen lernen werden. Im Schuljahr 2013/14 gibt es 262 Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz, die von rund 3.700 Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf besucht werden. „Bis 2016 sollen 50 Schwerpunktschulen dazukommen“, erklärte Jung. „Dabei werden wir die Beteiligungsrechte der Schulen ernster nehmen, als uns das teilweise in der Vergangenheit gelungen ist. Es kann nicht sein, dass ein Schulleiter aus dem Amtsblatt erfährt, seine Schule werde demnächst Schwerpunktschule.“

640 Vollzeitstellen für Pädagogische Fachkräfte und Förderlehrkräfte bestehen derzeit an den Schwerpunktschulen, bis zum Ende der Legislaturperiode sollen 200 weitere eingerichtet werden. Der Gemeinsame Unterricht (GU) soll in allen Schularten verankert werden, um dem Elternwillen Rechnung tragen zu können. Darüber hinaus sollen in Rheinland-Pfalz ausgewählte Förderschulen zu so genannten Förderzentren entwickelt werden. Deren Aufgabe soll in Unterricht, Beratung, Unterstützung und Kooperationen von Schwerpunktschulen bestehen. Der inklusive Unterricht soll darüber hinaus im berufsbildenden Bereich fortgesetzt, die Lehrerinnen und Lehrer durch mehr Weiterbildung unterstützt werden.

Allen Beteiligten ist klar, dass es noch „ein sehr langer Prozess ist, der über Jahrzehnte dauern kann“, wie Prof. Jutta Stantop von der Universität Trier in ihrem Vortrag erläuterte. Die Bildungswissenschaftlerin wird das gerade gestartete DKJS-Inklusionsprojekt „Gemeinsam klasse“ evaluieren. Hier werden fünf Schulen aus dem Raum Trier – drei Grundschulen, eine Realschule plus und eine Integrierte Gesamtschule – von 2013 bis 2015 unterstützt, sich zu Bildungseinrichtungen weiterzuentwickeln, in denen alle Kinder und Jugendlichen gemeinsam lernen können. Die Programmteilnehmenden erhalten umfassende Unterstützung in Form von Beratung und Unterrichtshospitationen durch einen erfahrenen Praxis-Coach, Fortbildungen und Qualifizierungen sowie halbjährliche Netzwerktreffen der „Gemeinsam klasse“-Schulen.

Inklusion und Leistungsfähigkeit kein Widerspruch

Jutta Stantop sieht die Verantwortung für Inklusion nicht alleine in den Schulen: „Eine fächerbezogene Entwicklungsarbeit ist auch bei den Schulbüchern und Materialien dringend erforderlich. Hier sind die Schulbuchverlage gefragt. Es gibt auch einen großen Forschungsbedarf, für den wir aber erstmal mehr Praxis benötigen.“

Die Wissenschaftlerin sieht verstärkte Elternarbeit, regionale Vernetzung, Kooperationen im Team, gemeinsame Fortbildungen des gesamten Teams der Schule, Jahrgangsmischung in den Klassen, Rhythmisierung des Tages und gebundene Ganztagsschulen als wichtige Voraussetzungen für gelungene Inklusion. Diese Punkte kehren in der Diskussion um Ganztagsschulen ebenfalls immer wieder; nicht zufällig meinte Jutta Stantop: „Guter inklusiver Unterricht ist guter allgemeiner Unterricht.“

Allen Skeptikern der inklusiven Bildung konnte sie mitteilen: „Kanada und Skandinavien haben gezeigt, dass ein inklusives und ein leistungsfähiges Bildungssystem kein Widerspruch sind.“

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