Fachtagung rhythmisiert: „Ein ganzer Tag Ganztag“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Das Programm war humorvoll einem rhythmisierten Schultag nachgestaltetet: „Ein ganzer Tag Ganztag“ hieß eine gut besuchte Fachtagung zur Ganztagsschule in Praxis, Wissenschaft und Politik in Berlin.

„Wir laden Sie ein, mit uns gemeinsam einen ganzen Tag in den Ganztag abzutauchen und darüber zu diskutieren, wie ein guter Ganztag gelingt (...) in festen Blöcken und Wahlkursen, in Pausen zum Essen und Bewegen (...). Seien Sie dabei, wenn der Gong ertönt und dieser ganze Tag Ganztag beginnt.“

Der Einladungstext machte neugierig. „Ein ganzer Tag Ganztag. Auf der Suche nach Bildungsgerechtigkeit“ hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung ihre Fachtagung am 20. Januar 2019 in Berlin überschrieben. Eingeladen waren Akteure aus Praxis, Wissenschaft und Politik, um sich über die Frage auszutauschen, „wie der Ganztag gestaltet werden kann, damit er gerade diejenigen Kinder fördert, deren Elternhäuser weniger Ressourcen bereitstellen können.

Vertreten waren bekannte Gesichter – vom ehemaligen Brandenburger Staatssekretär Burkhard Jungkamp, der in die Veranstaltung einführte, über Dr. Franziska Giffey, die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die über das „Recht auf Ganztag in der Grundschule“ sprach, Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts, und Prof. Dr. Heinz Günter Holtappels vom Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund, bis zu Dr. Heike Kahl, Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, und Lisi Maier, Vorsitzende des Deutschen Bundesjugendrings.

Franziska Giffey
Franziska Giffey © Mark Bollhorst

Dr. Franziska Giffey nannte in ihrem Referat die Ganztagsschule einen „Schlüssel für Bildungsgerechtigkeit“. Sie habe als Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln „selbst erlebt, wie die Gymnasialempfehlungen an gebundenen Ganztagsschulen anstiegen“. Auch erleichtere die Ganztagsschule die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, „gerade für Frauen“. Die Ministerin hob das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) des Bundes und der Länder hervor, mit dem viel erreicht worden sei, und erläuterte, wie der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule daran anknüpfen könne.

Die Themen der Workshops waren vielfältig, eben wie ein Ganztagsangebot: Es ging um „Demokratische Schulkultur und Mitbestimmung im Ganztag“, um die „Rolle von Eltern im Ganztag“, um die „Verzahnung von Schule und Kinder- und Jugendhilfe“ in der Gestaltung des Ganztags und um die Ausbildung für das Personal. Doch zunächst kam die Praxis zu Wort. Wie sich das Bemühen um Bildungsgerechtigkeit konkret gestaltet, zeigten zwei Ganztagsschulen aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen, die von ihren Schulleitungen vorgestellt wurden.

Grundschule am Heidenberger Teich: Selbstwirksamkeit erleben

Schulleiterin Ulrike Schmidt-Hansen berichtete von ihrer Schule am Heidenberger Teich in Kiel. An der seit 2009 als gebundene Ganztagsschule arbeitenden Grundschule lernen 500 Schülerinnen und Schüler. Von 8 bis 16 Uhr, freitags bis 12.45 Uhr, dauert der ganztägig rhythmisierte Schultag und bietet neben dem Unterricht sportliche, kreative und musische Angebote.

Sprachwerkstatt, Digitale Lernwerkstatt, Fahrradwerkstatt, Kunstatelier, Kochprojekt und Turngarten erweitern „den Lern- zum Lebensraum“. Seit drei Jahren arbeitet die Ganztagsgrundschule auch mit digitalen Medien. Die Schülerinnen und Schüler nutzen im Sachunterricht Tablets und programmieren Roboter in der Programmier-AG. Dies alles in einer „positiven Lernatmosphäre“, wie die Schulleiterin betonte. Denn Lehrerinnen und Lehrer orientieren sich am individuellen Lernstand der Schülerinnen und Schüler. An der Schule am Heidenberger Teich haben immerhin 85 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund, teilweise lernen sie in Sprachintensivklassen.

„Wir erreichen Bildungsgerechtigkeit“, so fasste Ulrike Schmidt-Hansen zusammen, „indem wir dafür sorgen, dass die Kinder Selbstwirksamkeit erleben und dass sie Raum für Bewegung, Gesundheit und Sprache haben. Sie erweitern so ihre soziale Handlungsfähigkeit, zum Beispiel in Angeboten der kulturellen Bildung, die für viele ansonsten kaum erreichbar wären. Wir unterstützen ihr selbstgesteuertes Lernen, und sie erwerben Medien- und Methodenkompetenz. Und alle Schülerinnen und Schüler essen bei uns zu Mittag.“

Grundschule Hahle: Kommunikative Fähigkeiten stärken

Die Grundschule Hahle in Stade ist eine teilgebundene Ganztagsschule. An zwei Wochentagen besuchen alle rund 200 Schülerinnen und Schüler verpflichtend den Ganztag, und an drei Tagen können sie die offenen Ganztagsangebote nutzen. Schulleiter Marc Rohde berichtete den Tagungsteilnehmern: „Wir haben mehr Zeit für Unterricht, den wir besser gestalten und rhythmisieren können. Wir passen die Stundentafel mit Neigungskursen, Lern- und Übungszeiten sowie mit Lernwerkstätten an die Bedürfnisse der Kinder an. Die Schülerinnen und Schüler bekommen mehr Zeit, um Sprach- und Methodenkompetenz zu erwerben.“

Marc Rohde
Marc Rohde © Mark Bollhorst

Die Ganztagsgrundschule kooperiert mit drei Kindertagesstätten und versteht sich als „Bildungshaus“. Damit gibt es auch täglich von 7 bis 18 Uhr Betreuungsmöglichkeiten in der im selben Gebäude untergebrachten Kindertagesstätte – auch in den Ferien. Im ganzen Jahr ist die Schule nur für zwei Wochen geschlossen. Die Verzahnung von vorschulischer und schulischer Bildung unterstützt dem Schulleiter zufolge die Bildungsgerechtigkeit: „Es gibt eine kooperative und professionsübergreifende Vorschularbeit im Bildungshaus durch jeweils eine Erzieherin und eine Lehrkraft.“

Bereits ein Jahr vor der Einschulung findet immer ein Elternabend in Kooperation mit den Kindertagesstätten statt, außerdem gibt es Einzelberatungen. Das stärkt die Zusammenarbeit mit den Eltern von Anfang an. Später sorgen Aktivitäten wie der „Kulinarische Leseabend“ oder Garteneinsätze mit Grillfest für Begegnung und Kommunikation. Für einen besonders wichtigen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit hält Schulleiter Rohde die Sprache. Sprachsensibler Unterricht durch ein integratives „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ)-Konzept, kollegiale Pflichthospitationen und Sprachbildung in allen Fächern stärkten die kommunikativen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler. „Daneben führen wir über den Leseclub, der Bestandteil der Stundentafel ist, die Kinder frühzeitig an Literatur heran“, so der Schulleiter.

Multiprofessionelle Teams mit gemeinsamer Ausbildung?

Die in den Beispielschulen gepflegte multiprofessionelle Zusammenarbeit ist eine Voraussetzung für eine gelingende Ganztagsschule. Dass das schon in der Ausbildung und Lehre viel stärker eine Rolle spielen muss, hatten Prof. Heinz Günter Holtappels und Prof. Thomas Rauschenbach vom Konsortium der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen – StEG“ am Vormittag betont: „Wir brauchen das Thema Ganztag in der Ausbildung von Lehrern und Erziehern!“

Modelle gemeinsamer Ausbildung sind noch ein Novum – aber es gibt sie. „Was pädagogische Fachkräfte im Ganztag brauchen und wie sie zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit beitragen können“, war das Thema eines der Workshops am Nachmittag, den der Erziehungswissenschaftler Prof. Wolfgang Böttcher von der Wilhelms-Universität Münster moderierte. Hier ging es vor allem um offene Fragen einer gemeinsamen Aus- und Fortbildung der Professionen, die am Ganztag beteiligt sind.

„Die Zusammensetzung des Personals in den Schulen hat sich durch den Ganztag verändert, was Chancen für die multiprofessionelle Zusammenarbeit eröffnet und zugleich eine große Herausforderung ist“, so führte Prof. Marianne Schüpbach, Professorin für Grundschulpädagogik an der Freien Universität Berlin, die selbst umfassende Studien zur Ganztagsgrundschule durchgeführt hat, in ihren Vortrag ein. Für sie ist die Kooperation des Personals Teil einer „Professionalisierungs- und Professionalitätsdebatte“. Sowohl Einstellungen müssten sich verändern als auch das fachliche Selbstverständnis, „bis hin zur Fachdidaktik“.

Gemeinsames Bildungsverständnis: Beispiel Schweden

Workshop mit (v.l.) Prof. Wolfgang Böttcher, Prof. Claudia Buschhorn und Prof. Marianne Schüpbach
Workshop mit (v.l.) Prof. Wolfgang Böttcher, Prof. Claudia Buschhorn und Prof. Marianne Schüpbach © Mark Bollhorst

Marianne Schüpbach, die auch eine der Mitbegründerinnen des Internationalen Netzwerks zur außerunterrichtlichen Bildung ist, verwies auf das Beispiel der School Age Educare Centers in Schweden, für die es bereits eine gemeinsame Grundlagenausbildung auf akademischem Niveau gibt. Wer in einem School Age Educare Center tätig ist, „bringt ein dreijähriges Universitätsstudium zum School Age Educare Teacher mit“. Seit 2011 gibt es einen gemeinsamen Lehrplan für formale und nonformale Angeboten. So ermögliche die Ausbildung auch ein gemeinsames Bildungsverständnis, wie die Bildungsforscherin betonte.

Als praktisches Beispiel stellte sie in ihrem Referat das „Kooperationsseminar Ganztagsschule“ vor, das sie zusammen mit der Akademie für Ganztagsschulpädagogik im Sommersemester 2019 durchgeführt hat. Das Seminar führt Studierende der Grundschulpädagogik und weiteres pädagogisches Personal unter anderem breit in das Thema Ganztagsschule ein und ermöglicht vor allem Exkursionen und Hospitationen an Ganztagsschulen. Eine ähnliche Fortbildung gibt es in Bremen in Kooperation der Fachschulen für Sozialpädagogik, der Hochschule Bremen und der Universität Bremen.

Prof. Claudia Buschhorn, Professorin für Pädagogik der Kindheit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), stellte wiederum den Bachelorstudiengang „Bildung und Erziehung in der Kindheit“ für Studierende der Sozialen Arbeit vor. Dieser nimmt die Kindheit „von null bis 14 Jahre“ in den Blick. Die Studierenden sollen bereits im Studium konkrete Handlungskompetenzen erwerben, um Kindern ein ganzheitliches Lernumfeld bieten zu können. „Die Studierenden sind dabei von Anfang an in der Praxis mit 180 Stunden pro Semester eingebunden“, berichtete die Wissenschaftlerin.

Akademisierung der Berufe wünschenswert

„So betreut eine Studentin zum Beispiel die Lernzeit in einer offenen Ganztagsschule, ein anderer Student organisiert im Rahmen der Schulsozialarbeit Angebote im Bereich Theater und Film.“ Wichtig ist Claudia Buschhorn auch, dass die Studierenden bewusst über „die sozio-ökonomischen Faktoren in der Bildung“ nachdenken. Sie zeigte sich überzeugt: „Die Ganztagsschule hat das Potenzial, alle Kinder und Jugendlichen zu unterstützen und für Chancengerechtigkeit zu sorgen.“

Akteure der Ganztagsbildung sollten gemeinsam statt nebeneinander arbeiten. Das gelinge durch die Einrichtung eines Gremiums mit regelmäßigem Austausch, gemeinsame Fortbildungen und vor allem die Einbeziehung der Kinder und Jugendlichen. Um die gemeinsame Aus- und Fortbildung mit einem gemeinsamen Bildungsverständnis zur realisieren, halten sowohl Marianne Schüpbach als auch Claudia Buschhorn die Akademisierung aller pädagogischen Berufe, also eine hochschulische Ausbildung für wünschenswert.

Diskussion im Panel
Eine Doppelstunde „Debattenkurs“ zum Abschluss © Mark Bollhorst

Zum Abschluss des „ganzen Tages Ganztag“ fanden sich die Teilnehmenden noch einmal zu einer Podiumsdiskussion „Ganztag für Bildungsgerechtigkeit – kann das gehen?“ zusammen. Beteiligt waren Bettina Martin, Bildungsministerin in Mecklenburg-Vorpommern, Oliver Kaczmarek, Bundestagsabgeordneter für Unna (NRW) und Sprecher für Bildung und Forschung der SPD-Fraktion, Carina Merth, zweite Vorsitzende des Ganztagsschulverbandes und Ganztagskoordinatorin an einer hessischen Schule, sowie Prof. Heinz Günter Holtappels für das StEG-Konsortium.

„Am Ganztag führt kein Weg mehr vorbei“

Bettina Martin konnte für Mecklenburg-Vorpommern berichten, dass das Land schon flächendeckend eine ganztägige Bildung anbietet, mit großer Akzeptanz. Wie überall in den östlichen Bundesländern gehe es nicht darum, „ob“ Bildung ganztägig sein soll, sondern „wie“. In Mecklenburg-Vorpommern steht im Vordergrund, über Kooperationspartner „das Leben“ in die Ganztagsschule hereinzuholen, beispielsweise den Landesjugendring oder die Landesverbände des Sports und der kulturellen Bildung. „Multiprofessionelle Teams gehören in die Ganztagsschule.“

Carina Merth vom Ganztagsschulverband sprach sich für bundesweite Qualitätsstandards aus, zu denen beispielsweise gemeinsame Anwesenheits- und Austauschzeiten des schulischen und außerschulischen Personals gehörten: „Für Qualifizierung und Kooperation ist Zeit nötig.“ Für Oliver Kaczmarek geht „am Ganztag kein Weg mehr vorbei“. Den Ausbau, besonders aber die notwendige Qualitätsentwicklung sieht er dabei als eine „Aufgabe für Jahrzehnte“. Die Perspektive der Kommunen, die als Schulträger maßgeblich den Ausbau der Ganztagsangebote beeinflussen, wäre sicherlich ebenfalls interessant gewesen, zumal es bei der Fachtagung auch um den geplanten Rechtsanspruch auf Ganztag in der Grundschule ging.

Ein verlässliches Angebot von verbindlicher Qualität – in diesem Anspruch waren sich jedenfalls die Podiumsdiskutanten einig – auch mit dem Publikum, das sich mit reichlich Fragen und Wortbeiträgen zu Wort meldete, darunter zahlreiche Expertinnen und Experten der Ganztagsbildung. Es wurde darauf hingewiesen, was in den letzten Jahren bereits alles erreicht worden ist. Und es wurde benannt, wo die Herausforderungen der Zukunft liegen. Auch Streitfragen gab es, etwa die, ob eine Profession über eine größere „Expertise für das Kind“ verfüge als die andere. „Ein ganzer Tag Ganztag“ war eine gelungene Veranstaltung, die alle wichtigen Fragen des Ganztags verhandelte.

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