Evangelische Akademie Loccum: „Ganztagsschule erfolgreich gestalten“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Inklusion, Rhythmisierung, Vernetzung – das waren einige der Themen, die auf der Tagung „Ganztagsschule erfolgreich gestalten. Auf dem Weg in eine neue Lernkultur“ vom 4. bis 6. Dezember 2013 in der Evangelischen Akademie Loccum diskutiert wurden.
Und wieder eine ausgebuchte Ganztagsschultagung! Zehn Jahre nach Start des Ganztagsschulprogramms ist das Interesse am Thema Ganztagsschule ungebrochen. „Die Teilnehmerzahl ist sehr ermutigend, wobei wir leider viele Absagen erteilen mussten“, begrüßte Andrea Grimm, die Tagungsleiterin der Evangelischen Akademie Loccum das vollbesetzte Plenum. Mit dieser Veranstaltung setze die Akademie die vor einem Jahr mit dem Forum "Ganztagsschule und ganztägige Bildung" begonnene Diskussion fort.

Niedersachsen hat in den vergangenen Jahren die Zahl der Ganztagsschulen stark erhöht – mittlerweile ist jede zweite Schule in dem Flächenland Ganztagsschule. Es sind überwiegend offene Ganztagsschulen mit einem freiwilligen Nachmittagsangebot, das überwiegend von außerschulischen Partnern gestaltet wird. Die neue Landesregierung hat angekündigt, verstärkt gebundene Ganztagsschulen auszubauen. „Es bleibt dabei, dass aber auch die Pädagogik ausgebaut werden muss“, konstatierte Andrea Grimm. Die Tagung solle als Forum dienen, wie eine neue Strukturierung des Lernens, ein neues Konzept von Wissensvermittlung, Vertiefung und Förderung, verzahnt mit Angeboten und Arbeitsformen, die auch das informelle und nonformale Lernen ermöglichen, erreicht werden könne.
Der Erziehungswissenschaftler Prof. Ulrich Herrmann entwarf in seinem Vortrag ein Bild der Ganztagsschule, wie es aus Ideen und der Praxis der Reformpädagogik am Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden war. „Die Schülerinnen und Schüler lernen in Lernlandschaften, selbstorganisiert und in frei gewählten Kursen. Die traditionelle Lehrerrolle hat hier keinen Bestand mehr. Es ist nicht mehr so, dass der Lehrer erzählt, und ihm die Kinder untätig gegenüber sitzen, sondern nun sieht er die Schülerinnen und Schüler, während sie lernen.“ Dies werde flankiert durch einen anderen Umgang mit der Zeit und den Einsatz von außerschulischem Personal – beides bestmöglich umzusetzen in einer Ganztagsschule.
„Man kann nicht nicht rhythmisieren“
Dem Thema Zeit widmete sich Dr. Ilse Kamski vom Institut für Schulentwicklungsforschung an der Universität Dortmund mit ihrem Vortrag „Zeitorganisation und Rhythmisierung“. Die Wissenschaftlerin berichtete, dass der 45-Minuten-Takt seit einigen Jahren in vielen Schulen durch ganz unterschiedliche Zeitmodelle abgelöst werde. Zu ihren Beispielen steuerten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor Ort sogar noch weitere bei. „Der Leistungskurvenverlauf von Schülerinnen und Schülern war und ist pädagogisch wenig erforscht“, gab Ilse Kamski zu bedenken. „Und welche Unterrichtstaktungen die richtigen sind, ist wissenschaftlich ebenfalls noch nicht erforscht. Es kommen bald erste Ergebnisse.“
Man könne „nicht nicht rhythmisieren“, so Ilse Kamski. Schulen müssten ihre Zielklärung zur Rhythmisierung an der Frage ausrichten: „Was ist das Ziel, das ich mit der Ganztagsschule erreichen will?“ Das Ändern von Zeit und Rhythmus gehe dann notwendigerweise einher mit Änderungen, wie Lehrerinnen und Lehrer unterrichteten, wie Lehrkräfte und pädagogische Partner zusammenarbeiteten, welchen Platz Hausaufgaben und Lernzeiten in einer Ganztagsschule fänden.

Die Bedeutung der Vernetzung stellte Dr. Herbert Asselmeyer von der Universität Hildesheim heraus. „Eine gute Schule ist eine lernende Schule“, stellte der Experte für Angewandte Organisationspädagogik fest. Dieses Lernen entstehe durch Vernetzung – mit anderen Bildungseinrichtungen, mit der Jugendhilfe, mit sozialen Einrichtungen oder mit Institutionen in der Stadt zu regionalen Bildungslandschaften. „Die vernetzte Zusammenarbeit hat sowohl für die Akteure und deren Arbeit als auch für die Qualität der Bildungsangebote und somit auf den Lernzuwachs der Kinder und Jugendlichen positive Auswirkungen“, zitierte Asselmeyer den Bildungsforscher Prof. Stephan Huber von der Pädagogischen Hochschule Zug.
Die Partnerschaften der verschiedenen Bildungsinstitutionen und Professionen stehen laut Asselmeyer dabei mitunter in einem Spannungsverhältnis, das durch Konkurrenz der Akteure bedingt sei. Es führe dennoch kein Weg daran vorbei, die Schulkultur als eine multiprofessionelle Aufgabe zu verstehen und die Schule weiterzuentwickeln, indem man „den Blick nach innen, aber auch nach außen richtet“.
„Schule soll keine Ersatzfamilie werden“
Dr. Jörg Steitz-Kallenbach, stellvertretender Schulleiter des Herbartgymnasiums in Oldenburg, ergänzte Asselmeyers Vortrag aus Sicht eines Schulpraktikers: „Die Schule muss die eigenen Potenziale für die Initiierung und Begleitung von Bildungs- und Entwicklungsprozessen offensiv vertreten und gleichzeitig innere Veränderungen eigenverantwortlich einleiten.“ Sie spiele die zentrale Rolle bei der Kontinuität des Bildungsangebots.ein Ganztagsangebot müsse daher vom institutionellen Auftrag der Schule her gedacht werden. „Die Schule soll keine Ersatzfamilie werden, sie darf nicht familarisiert werden“, mahnte der Pädagoge.

Ein weiteres Schulbeispiel stellte sich mit der Richard-von-Weizsäcker-Oberschule aus Ottbergen im Landkreis Hildesheim vor. Die Oberschule ist seit dem Schuljahr 2009/2010 offene Ganztagsschule und bietet an zwei Wochentagen verschiedene Nachmittagsangebote an. Für die rund 230 Schülerinnen und Schüler gibt es zahlreiche Arbeitsgemeinschaften wie Erste Hilfe, Mädchen AG, Graffiti oder den Schulgarten. Das Sportangebot umfasst unter anderem Golf, Rudern, Kampfsport und Streetdance. Die AGs werden dabei nicht nur von den Lehrkräften geleitet, sondern auch von externen Experten der Sozialagentur Cluster.
Lehrer Uwe Witzschel berichtete im Workshop „Inklusion im Ganztag“: „Wir haben festgestellt, dass wir Unterstützung bei den Angeboten benötigen. Die Agentur Cluster vermittelt Menschen, die etwas Besonderes können, meistens Studierende oder Sozialpädagogen. Besonders Letztere sind eine Bereicherung für das Schulleben, weil sie so ganz anders als wir Lehrer und näher an den Kindern dran sind.“ Zweimal im Jahr stellen sich im „Talentschuppen“ in der Turnhalle die Angebote vor. Jedes Angebot, das von über zehn Schülerinnen und Schülern gewählt wird, findet statt.
Neue Arbeits- und Sozialformen ausprobieren
Parallel zum AG-Angebot können sich Schülerinnen und Schüler in der Hausaufgabenzeit Hilfe bei Fachlehrkräften in den Fächern Mathematik, Deutsch, Englisch und Naturwissenschaften holen, um die Hausaufgaben zu bewältigen. Alle Jugendlichen erhalten eine Fördermappe, in der Aufgaben und Anwesenheit vermerkt und Materialien eingeheftet werden. Die Teilnahme ist freiwillig, allerdings können laut Lehrerin Melanie Spiller auch die Lehrkräfte in Rücksprache mit den Eltern Schülerinnen und Schüler hierzu verbindlich anmelden.

Dienstags findet regulärer Nachmittagsunterricht mit der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer statt. Hier werden Neue Medien, Arbeits- und Sozialformen ausprobiert und vertieft und schaffen so ein neues Lernklima.
„Man kann auch viel ohne zusätzliche Mittel bewegen“, berichtete Witzschel, „aber es dauert, bis man den richtigen Rhythmus findet. Wir hatten zunächst ein Zeitkonzept, das nicht funktionierte – die Vormittagspausen waren zu kurz, die Mittagspause zu lang, die Stunden zu kurz.“ Heute arbeite man mit drei Doppelstunden, Pausen zwischen den Doppelstunden und einer Mittagspause von 40 Minuten.
Inklusion: Umgang mit Heterogenität
Die Richard-von-Weizsäcker-Oberschule ist darüber hinaus Projektschule der Universität Hildesheim. Die Abteilung Weiterbildung in Netzwerken (WiN) des Weiterbildungszentrums der Universität begleitet erstmals eine Schule wissenschaftlich auf dem Weg zur Inklusion. Vier Lehrkräfte der Oberschule absolvieren den berufsbegleitenden internationalen Weiterbildungsstudiengang "Inklusive Pädagogik und Kommunikation" an der Universität.

„Das Studium ermöglicht einen Austausch mit Lehrkräften aus Südtirol und der Schweiz, den die Teilnehmenden als sehr bereichernd empfinden“, berichtete die für das Projekt zuständige Erziehungswissenschaftlerin Britta Ostermann. Das Studium dauert vier Semester, Dozenten aus Wissenschaft und Praxis geben Input, gearbeitet wird in Kleingruppen. Gegenstände des Studiums sind unter anderem die Grundlagen einer Pädagogik der Vielfalt, Umgang mit Heterogenität auf den Ebenen Unterricht, Schulleben und Schulorganisation.
„Wir vier Studierende dienen nun auch als Multiplikatoren der Inhalte für das Kollegium“, erläuterte Lehrerin Susanne Meyer. „Das Ziel ist es, eine inklusive Grundhaltung aller Kolleginnen und Kollegen zu erreichen, Informationen an die Eltern weiter zu geben und vor allem Vorurteile abzubauen. Wir müssen klarmachen, was Inklusion nicht bedeutet.“
Kategorien: Ganztag vor Ort - Lernkultur und Unterrichtsentwicklung
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