Chancen nutzen: Sprachbildung im Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Martina Reynders vom Berliner Zentrum für Sprachbildung gab zusammen mit ihrer Kollegin Frau Dr. Monika Vöge den Input zum Fachtag „Sprachbildung: Chancen ganztägig nutzen“ der Serviceagentur Ganztag. Im Interview erörtert sie die Potenziale des Ganztags.

Online-Redaktion: Die Serviceagentur „Ganztag“ hat sich einem wichtigen und wieder aktuellen Thema zugewandt. Die Zahl der leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler hatte sich in der Corona-Zeit um zehn Prozent erhöht, das zeigen mehrere Studien. Brauchen wir eine neue Sprach- und Leseinitiative?

Martina Reynders: Die Notwendigkeit durchgängiger Sprachbildung von der Kita an ist lange bekannt und es gibt zahlreiche Initiativen. Unser Berliner Zentrum für Sprachbildung wurde vor sechs Jahren gegründet. Doch die Tatsache, dass Menschen aller Altersgruppen, die ihre Heimat verlassen mussten, die deutsche Sprache noch nicht oder nicht ausreichend beherrschen, erhöht den Bedarf an entsprechenden Konzepten. Die vielen Monate, die unsere Schülerinnen und Schüler im schulisch angeleiteten Lernen Zuhause verbracht haben, verschärfen die Situation. An dieser Stelle möchte ich aber auch betonen: Sprachbildung ist für alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland elementar für ihre Bildungsbiografie.

Online-Redaktion: Die Einstellung der Schulen und Lehrkräfte unterscheidet sich. Manche möchten in der Schule nur Deutsch hören, andere plädieren dafür, die Muttersprachen einzubeziehen. Wie sehen Sie das im Zentrum für Sprachbildung?

Reynders: Aus unserer Sicht wäre es gut, zu verstehen, wie wertvoll es ist, die Muttersprache einzubeziehen. Realität ist, dass viele Schülerinnen und Schüler mehrsprachig aufwachsen. Es muss uns gelingen, ihnen allen die Bildungssprache so zu vermitteln, dass sie die Abschlüsse schaffen. Denn dass sie des Deutschen noch nicht ausreichend mächtig sind, bedeutet nicht, dass sie weniger intelligent sind. Der Ausbau der sprachlichen Kompetenzen aller Schülerinnen und Schüler ist eine Aufgabe für uns alle. In der Schule gilt das für das gesamte pädagogische Personal, Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher gleichermaßen. Es gibt keine „nützliche“, „gute“ oder „schlechte“ Sprache. Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenzen sollten als Ressource angesehen werden.

Online-Redaktion: Doch Lehr- und Fachkräfte sind darauf oft nicht vorbereitet…

Reynders: Das stellt gewiss ein Problem dar. Deshalb bieten wir im Zentrum für Sprachbildung Schulen bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Sprachbildungskonzepte Unterstützung und Begleitung von bis zu zwei Jahren an. Auch entsprechende Materialien können sie von uns erhalten. Entscheidend aber ist aus unserer Sicht die Haltung. Wenn Schulen sich der Situation nicht nur bewusst, sondern bereit sind, Lösungen zu entwickeln, ist ein wichtiger Schritt getan. Und alle Maßnahmen funktionieren nur, wenn die Schulleitung sie mitträgt.

Online-Redaktion: Wie können Schulen vorgehen und was benötigen sie für die Sprachbildung?

Bibliothek
© Britta Hüning

Reynders: Sie benötigen Begleitung von außen, wie es das Zentrum für Sprachbildung beispielsweise anbietet. Sie sollten sich kleine Ziele setzen und diese im Kollegium abstimmen. Die konzeptionelle Verankerung im Bereich der Leseförderung gelingt z.B. durch gezieltes Training der Leseflüssigkeit: Am Anfang steht eine einfach durchzuführende Testung der Schülerinnen und Schüler zur Leseflüssigkeit. Darauf folgen ein dreimonatiges regelmäßiges Lesetraining und ein weiterer Re-Test. Große Ziele kann man im Blick behalten, sollte diese aber nicht in den Vordergrund rücken. Wer nicht lesen kann, dem hilft auch keine noch so schöne Lesenacht. Und noch etwas benötigen Schulen: eine stärkere Verzahnung von Unterricht und Ganztagsangeboten.

Online-Redaktion: Warum ist diese Verzahnung für Sprachbildung bedeutsam?

Reynders: Im Ganztag kann das Kind die Prinzipien Sprache und Handeln, Sprache und Musik, Sprache und Bewegung erleben und so Sprache ganzheitlich erfahren. Die Schülerinnen und Schüler lernen Sprache dadurch über andere Kanäle. Durch Lerngerüste (sogenanntes Scaffolding) lassen sich Methoden der Aneignung auf- und ausbauen, über Sprache nachdenken, sie vergleichen, sie erproben, aber auch Freude am Umgang mit Sprache erleben.

In den Bereichen Kulturelle Bildung, Sport- und Umweltbildung können Schülerinnen und Schüler Inhalte und Fachsprache in außerunterrichtlichen Angeboten aufgreifen, erweitern und üben. Bewegungsspiele, Lieder, Reime, Rollenspiele und Theaterspiele vermitteln Freude am Umgang mit Sprache. Schülerinnen und Schüler erfahren Leistungszuwachs ohne Druck. Die Voraussetzung dafür ist ein planvolles, reflektiertes und abgestimmtes Vorgehen der Lehrkräfte und der pädagogischen Fachkräfte.

Online-Redaktion: Wie können „Sprechen, Lesen, Hören“ im Ganztag gefördert werden?

Reynders: Bevor ich ein konkretes Beispiel nenne, möchte ich darauf hinweisen, wie sehr z.B. das flüssige Lesen das Verstehen eines Textes beeinflusst. Es wäre fatal, zu glauben, dass der Erwerb dieser Kompetenzen allein eine Aufgabe des Deutschunterrichts ist. Der Ganztag kann und sollte hier eingebunden sein. Alltägliche Situationen und Rituale, von der Begrüßung über das Tisch decken bis hin zu Rollenspielen, werden bewusst zur Sprachförderung genutzt. Nehmen wir das Mittagessen als Beispiel: Es ist ohne viel Aufwand möglich, ein Poster mit Begriffen und Symbolen zum Thema Ernährung als Sprachgerüst zu entwickeln. Ein Blick darauf, und die Lernenden sehen das deutsche Wort für Messer oder Gabel und können es nutzen. Ebenso können da kleine Sätze stehen wie „Ich möchte bitte noch…“

Online-Redaktion: Wie aber lernen die Kinder und Jugendlichen Fachbegriffe, die erforderlich sind, um Aufgaben im Unterricht zu lösen, also die Bildungssprache?

Reynders: Unterstützung kann den Schülerinnen und Schülern durch die bereits erwähnten „Scaffolds“ angeboten werden. Dies können Wortlisten und ergänzende Abbildungen sein. Eine Schülerin oder ein Schüler wird an der Aufgabe, einen Inhalt zu erläutern, scheitern, wenn er oder sie den Begriff „erläutern“ gar nicht kennt. Als Lehrkraft, die natürlich nicht alle Sprachen spricht, kann ich beispielsweise zweisprachige Schülerinnen und Schüler bitten, das Wort in der Herkunftssprache zu erklären. Das erfordert den Mut und die Souveränität der Lehrkräfte, weil sie dann auch Kontrolle abgeben.

Online-Redaktion: Wie unterscheiden sich Alltags- und Bildungssprache?

Reynders: Die Alltagssprachwelt ist fehlertolerant. In der Bildungssprache fallen Fehler auf und entstellen unter Umständen den Sinn. In der Alltagssprache akzeptieren wir auch unvollständige und einfache Sätze, mitunter auch einen unpräzisen Wortgebrauch, Füllwörter, Wiederholungen, Gedankensprünge oder grammatikalische Fehler – in der Bildungssprache nicht. Bildungssprache enthält Merkmale der Schriftsprache auch wenn sie mündlich gebraucht wird.

Online-Redaktion: Und dann muss die Lehrkraft eingreifen?

Lesen
© Britta Hüning

Reynders: Wichtig ist, dass wir davon wegkommen zu glauben, dass eine Mischung zweier Sprachen ein Zeichen für eine Überforderung darstelle. Oft ist entscheidend wie auf Fehler reagiert wird. Durch Berichtigen von Sprachäußerungen wie „Das sagt man so:…“ oder die Aufforderung zum Nachsprechen wird die Sprechfreude stark gehemmt. Stattdessen können die Korrekturen in Wiederholungen des Gesagten eingebaut werden. Beispielsweise, wenn eine Schülerin sagt: „Ich habe was getrinkt.“ Dann kann ich antworten: „Was hast du denn getrunken?“ Durch diese Modellierung wird der Sprachegebrauch positiv verstärkt.

Online-Redaktion: Wie stellen Sie sich Sprachbildung und den Umgang mit Sprache im optimalen Fall vor?

Reynders: Ich wünsche mir noch mehr Kreativität in den Schulen – den mehrsprachigen Bücherkoffer, der für eine Woche in eine Familie wandert, kleine Experimentier- und Leseecken in Schulen und Ganztagsräumen, forschendes Lernen. Besuche von außerschulischen Lernorten schaffen für Schülerinnen und Schüler nicht nur Lebenserinnerungen, sondern bereichern auch ihren Sprachschatz. Das darf auch gerne in der Herkunftssprache sein.


Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Martina Reynders, Jg. 1961 leitet seit 2017 das Zentrum für Sprachbildung (ZeS) in Berlin, das 2015 von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie gegründet wurde. Sie studierte Sonderpädagogik an der damaligen Pädagogischen Hochschule Kiel und war mehr als 20 Jahre Lehrerin in Berlin. Nach einer Qualifizierung zur Sprachberaterin an der Universität Hamburg wurde sie Fortbildnerin für Lehrkräfte sowie für Erzieherinnen und Erzieher.

Das Zentrum für Sprachbildung bündelt und koordiniert die vielfältigen Aktivitäten im Bereich der Sprachbildung in Berlin und entwickelt bewährte Konzepte und Programme weiter. Zu seinen Aufgaben gehören die Qualifizierung, Beratung und der fachliche Austausch zu Themen der Sprachbildung und Sprachförderung, darunter der Transfer wissenschaftlicher Ergebnisse in die Bildungspraxis, Fachtage mit verschiedenen Kooperationspartnern und die Entwicklung von Materialien.

Ein Schwerpunkt des Zentrums ist die Umsetzung von Ergebnissen des Bund-Länder-Programms „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BiSS) und seines Anschlussprogramms einer gemeinsamen Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Kultusministerkonferenz. Deren Ziel ist der wissenschaftsbasierte Transfer von Konzepten zur Sprachbildung, Lese- und Schreibförderung in bis zu 2.700 Schulen und Kitas bundesweit. Inhaltliche Schwerpunkte von BiSS-Transfer sind die Themen Leseförderung, Schreibförderung, sprachsensibler Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache als Teil von Schul- und Unterrichtsentwicklung.

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