Ganztag in M-V: Bewährtes fortführen, Neues wagen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Dr. Michael Retzar ist der neue Leiter der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ in Mecklenburg-Vorpommern, die schon 17 Jahre besteht. Er weiß um die besonders wichtige Funktion von Ganztagsschulen in ländlichen Regionen.

Online-Redaktion: Als Otto Rehhagel 1995 nach 14 Jahren Trainertätigkeit Werder Bremen verließ, befürchteten manche Schlimmes. Jetzt treten Sie in die Fußstapfen Ihrer Vorgängerin Maria Parttimaa-Zabel, die eine noch längere Phase geprägt hat…

Michael Retzar: Ich weiß um die Größe der Aufgabe und um die Fußstapfen von Maria Parttimaa-Zabel, die die Serviceagentur aufgebaut und bei uns im Land etabliert hat. Was mir aber noch zu Ihrer Frage einfällt: Nach dem Weggang von Otto Rehhagel fand Werder Bremen mit Thomas Schaaf jemanden, der auch wieder eine lange Ära dort prägte. Ich möchte hier einen Beitrag leisten, dass die Serviceagentur ihre bisherige Arbeit im Interesse der Ganztagsschulen im Land verlässlich fortsetzt, Und ich bin sehr optimistisch, dass uns das als Team gelingt.

Online-Redaktion: Was stimmt Sie zuversichtlich?

Retzar: Ein Unterschied zu Werder Bremen ist wohl, dass nicht jeder Nachfolger von Otto Rehhagel so viel Bremer Luft geschnuppert hatte. Ich dagegen komme aus Mecklenburg-Vorpommern, genauer gesagt aus Neubrandenburg. Intensiven Kontakt zur Serviceagentur „Ganztägig Lernen“ und zur RAA, der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie Mecklenburg-Vorpommern, die Träger der Serviceagentur ist, hatte ich immer. Ich war schon seit 2013 in unterschiedlicher Funktion hier tätig, als wissenschaftlicher Begleiter oder auch als Fortbildner. Ich kenne daher nicht nur meine heutigen Kolleginnen und Kollegen schon lange, sondern auch viele Schulen bei uns in Mecklenburg-Vorpommern aus meiner bisherigen Arbeit.

Online-Redaktion: Wo liegen Ihre inhaltlichen Schwerpunkte?

Vorführung
© Britta Hüning

Retzar: Mein besonderes Interesse gilt schon lange den Schulen im ländlichen Raum und dem Thema der Partizipation der Schülerinnen und Schüler. Ich habe auf dem Gebiet der Schulentwicklung geforscht und zur kulturellen Bildung an Schulen gearbeitet. Schulen und insbesondere die Ganztagsschulen nehmen im ländlichen Raum eine ganz wichtige Funktion in den kommunalen Strukturen ein. Sie tragen zum lebendigen gesellschaftlichen Leben bei und fördern es. Bedauerlicherweise ist das Thema aber in der Bildungsforschung bislang unterrepräsentiert. Ich vermute, weil viele der Forschenden selbst in Großstädten leben und arbeiten.

Online-Redaktion: Was leisten Ganztagsschulen im ländlichen Raum?

Retzar: Sie werden immer mehr zu sozialen Ankerpunkten, an denen mehr stattfindet als Unterricht. Sie können Orte attraktiven gesellschaftlichen Lebens darstellen und eine Region entscheidend bereichern. Dies geschieht einerseits dadurch, dass die Ganztagsschulen mit vielen Externen zusammenarbeiten und diese in die Schule kommen und umgekehrt. Für Vereine, Feuerwehren und andere bieten ländlich gelegene Schulen eine hervorragende Möglichkeit, sich zu präsentieren und neue Mitglieder zu gewinnen.

Zugleich nutzen viele kommunale Einrichtungen und Organisationen die Räumlichkeiten der Ganztagsschulen für ihre Veranstaltungen. Und die Attraktivität eines Ortes profitiert davon, wenn durch eine Schule gesellschaftliches Leben stattfindet, weil sich dann Familien eher dort niederlassen, Geschäfte täglich Kundschaft vor Ort haben und es sich lohnt, die ganze Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Außerdem ist es von unschätzbarem Wert, wenn sich Heranwachsende mit ihrer Region auseinandersetzen.

Online-Redaktion: Mit welchen Effekten?

Retzar: Zum einen geht es natürlich darum, sich mit seiner Umgebung vertraut zu machen und sie sich aneignen zu können. Wichtig sind aber auch die Bindungsfaktoren. Ohne eine positiv geprägte biografische Erfahrung in der eigenen ländlichen Region gehen junge Menschen eher weg, wandern nach der Schule in die Städte ab. Die Identifikation mit der eigenen Herkunftsregion ermöglicht es ihnen vielleicht, sich ein Leben auf dem Land vorzustellen oder es in Betracht zu ziehen, nach Ausbildung oder Studium wieder zurückzukommen. Auch deshalb sollten kleine Schulen im Ländlichen erhalten bleiben. Sie tragen zum Erhalt der Strukturen bei. Die Schulstandorte auf dem Land dürfen nicht leichtfertig aufgegeben werden, das ist auch eine Frage der gleichwertigen Lebensverhältnisse und der gesellschaftlichen Stabilität.

Online-Redaktion: Als einen weiteren wichtigen Aspekt Ihrer bisherigen Arbeit nannten Sie die Partizipation der Schülerinnen und Schüler. Warum hat sie Ihrer Meinung nach so einen hohen Stellenwert?

Retzar: Es ist gesellschaftlich wichtig, dass junge Menschen frühzeitig lernen, dass es sich lohnt, sich zu engagieren, für sich und für eine Sache einzutreten. Ganztagsschulen können zur Entwicklung dieses Bewusstseins einen wichtigen Beitrag leisten. Schülerinnen und Schüler sollten deshalb so häufig wie möglich in Entscheidungen einbezogen werden, die sie betreffen. Das heißt zum einen, in unterschiedlichen Gremien mitwirken zu können. Zugleich heißt Partizipation aber auch, ihnen die Möglichkeit zu geben, an der Gestaltung des Unterrichts mitzuwirken.

Online-Redaktion: Das heißt konkret?

Pausenhof
© Britta Hüning

Retzar: Die Individualisierung des Unterrichts muss, das ist schon lange kein Geheimnis mehr, noch stärker vorangetrieben werden. Dem selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lernen mit einer Auswahl an vorbereitetem Lehrmaterial gehört die Zukunft. Das erfordert eine starke Flexibilität von Lehrkräften und natürlich ist das eine Frage von intensiver Abstimmung und von enormem Vorbereitungsaufwand. Lehrkräfte als Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter schaffen Möglichkeiten des Lernens an unterschiedlichen, auch selbst gewählten Orten in und außerhalb der Schule. Sie ermöglichen vor allem auch ungleichzeitiges Lernen, also ohne Zeitdruck, nach eigenem Tempo und auf unterschiedlichen Lernniveaus. Und das hat natürlich auch Auswirkungen darauf, wie wir den schulischen Raum gestalten und wie wir Schulen bauen.

Online-Redaktion: Welche Unterstützung dürfen die Ganztagsschulen von der Serviceagentur auf diesem Weg erwarten?

Retzar: Das Thema wird uns alle bestimmt noch mindestens die kommenden zwei Jahrzehnte beschäftigen. Wir wollen die Möglichkeiten weiter ausbauen, dass Lehrkräfte an spannenden Schulen hospitieren können, bis hin zum benachbarten Ausland. Im Herbst planen wir beispielsweise Schulbesuche in den Niederlanden und in Finnland. Um dies weiter ausbauen zu können, haben wir uns beim Programm Erasmus+ akkreditiert. Damit liegen wir ganz auf der Linie meiner Vorgängerin. Maria Parttimaa-Zabel hat hier entscheidende Weichen gestellt, auch für unsere vielen Partnerprojekte bei der RAA.

Online-Redaktion: Welche Erwartungen verknüpfen Sie mit den Hospitationen?

Retzar: Erfahrungen sammeln wir schon jetzt in unseren bewährten Schulnetzwerken hier in Mecklenburg-Vorpommern, aber wir möchten auch weiteren ganztägig arbeitenden Schulen diese Möglichkeiten anbieten. Wir erhoffen uns davon, dass unsere Ganztagsschulen noch mehr Sicherheit gewinnen, dass es sich lohnt, sich zum Beispiel in Richtung Individualisierung, der Förderung von Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichten oder auch in Fragen der Schularchitektur und Raumkonzepte weiterzuentwickeln. Mit Hospitationsreisen wollen wir den Lehrkräften Zuversicht geben, dass dies auch gelingen kann, dass innovative Schulkonzepte nichts von einem anderen Stern sind.

Online-Redaktion: Bewährtes fortführen, Neues wagen und angehen, gilt häufig als Motto beim Stabwechsel. Was bewahren, was ändern Sie?

Retzar: Die Serviceagentur „Ganztägig lernen Mecklenburg-Vorpommern“ hat sich mit ihrem Team zu einer schlagkräftigen Ansprechpartnerin für die Ganztagsschulen entwickelt. Seitens der Schulen besteht ein großes Vertrauensverhältnis. Dem wollen wir weiter gerecht werden. Und wir möchten natürlich unsere Expertise ausbauen und unsere Angebote an die sich ständig verändernden Rahmenbedingungen anpassen. Unsere bereits enge Kooperation mit unserem Landesinstitut, dem Institut für Qualitätsentwicklung Mecklenburg-Vorpommern, wollen wir weiter intensivieren. So können wir die Schulen etwa dabei unterstützen, Qualitätsanforderungen noch besser gerecht zu werden. Beratung bleibt also ein Teil unseres Kerngeschäfts.

Online-Redaktion: Können Sie weitere Ziele benennen?

Vortrag
© Britta Hüning

Retzar: Wir möchten uns noch stärker in die Lehreraus- und -fortbildung einbringen, indem wir einen Beitrag zu deren Praxisorientierung leisten. So wie wir es bereits an der Uni Greifswald tun. Dort informieren wir die Studierenden in einer Vorlesung über die besonderen Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen des Ganztags. Die Inhalte der Vorlesung vertiefen wir in Praxisseminaren. Wir werden auch nicht müde, zu verdeutlichen, wie wichtig der Ganztag für die Bildungsgerechtigkeit ist. Und wir möchten hervorheben, dass Ganztag nicht nur heißt, Familie und Beruf besser vereinbaren zu können, sondern dass er die besondere Chance bietet, die Schülerinnen und Schüler mit ihren individuellen Anforderungen, Bedürfnissen und Interessen in den Mittelpunkt der Schule zu rücken.

Online-Redaktion: Wie sollte ihre Bilanz in zehn Jahren aussehen?

Retzar: Ich wünsche mir, dass wir die Quote von rund 66 Prozent ganztägig arbeitender Schulen weiter steigern können, möglichst in gebundener Form. Ich hoffe, wir können dann festhalten, dass wir mit unseren Fortbildungen und Veranstaltungen den Nerv der Zeit treffen. Und ich hoffe, dass wir für die Ganztagsschulen im Land bei den jeweils aktuellen Herausforderungen hilfreich sein konnten. Wir werden noch lange mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen haben. Ab 2026 haben Grundschülerinnen und Grundschüler einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz. Die Vorbereitungen dafür erfordern einen intensiven Austausch zwischen Horten und Ganztagsschulen. Derzeit möchten wir die Ganztagsschulen unterstützen, die jetzt viele neue Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine haben.

Unsere Arbeit steht insgesamt unter dem Vorzeichen, neue Situationen für Veränderungen zu nutzen, dabei aber die Schulen nicht zu überfordern. Wenn uns das gelingt, haben wir viel erreicht.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Dr. Michael Retzar, Jg. 1985, ist seit 2022 Leiter der Serviceagentur Ganztägig lernen Mecklenburg-Vorpommern mit Sitz in Waren (Müritz). Er wuchs in Neubrandenburg auf. Nach dem Abitur am Albert-Einstein-Gymnasium und einem Freiwilligen Sozialen Jahr bei der Lebenshilfe e. V. nahm er 2005 sein Lehramtsstudium mit den Fächer Geschichte und Englisch in Jena auf. Nach seinem Abschluss war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und an der Arbeitsstelle „Kulturelle Bildung an Schulen“ der Philipps-Universität Marburg und wurde 2019 promoviert. Er leitete u.a. die wissenschaftliche Begleitforschung „Kulturelle Bildung und Schulentwicklung im ländlichen Raum“ zum Landesprojekt KULTUR.LAND.SCHULE in Mecklenburg-Vorpommern und mit Prof. Dr. Heike Ackermann das vom BMBF geförderte Projekt „Regionale Bindung“ in Kooperation mit der Universität Leipzig.

Veröffentlichungen u.a.:

Retzar, M. (2021): Abbau von sozialen und regionalen Bildungsnachteilen durch Kulturelle Bildung
Teilhabestrategien von Schulen mit kulturellem Schulprofil

Retzar, M. (2020): Partizipative Praktiken an Demokratischen Schulen. Schulkulturen mit umkämpfter Schulentwicklung. Wiesbaden: Springer VS.

Ackermann, H., M. Retzar, S. Mützlitz & C. Kammler. (2015): KulturSchule. Kulturelle Bildung und Schulentwicklung. Wiesbaden: Springer VS.

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