"Messe der Ganztagsschulen" in Bremen : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Die "Messe der Ganztagsschulen" in Bremen war nicht nur Spiegelbild, sie war eine Bühne jener gesellschaftlichen Institutionen, die das gegenwärtige und zukünftige Gesicht der Ganztagsschulen prägen. Die außerschulischen Partner der Ganztagsschulen und die Schulen selbst müssen mehr Eigenverantwortung übernehmen, wenn sie eine Perspektive entwickeln wollen. Die "Messe der Ganztagsschulen" offenbarte ein Stück dieser Zukunft für die außerschulischen Partner und die Ganztagsschulen im Land Bremen.

Im Mittelalter waren Messen beides: Kirchlicher Festtag (von "Missa") und Leistungsschau. Auf Messen wurden Waren und Angebote ausgestellt, es wurde informiert, verglichen - nützliche Kontakte wurden geknüpft und natürlich auch Feste gefeiert. Auch wenn sie die unterschiedlichsten Gesichter haben, erfüllen Messen vor allem einen Zweck: Sie bündeln die Vielfalt der Angebote an einem Ort, der zum Erlebnisraum und zum Ort des Informationsaustausches wird.

Otto Bothmann und Sabine Heinbockel
Der Leiter der Bremer Schulaufsicht, Otto Bothmann und Sabine Heinbockel von der Serviceagentur "Ganztägig lernen" Bremen eröffnen die "Messe der Ganztagsschulen" im Bürgerzentrum Neue Vahr.

Die Messe für außerschulische Partner der Serviceagentur Bremen "Ganztägig lernen", die im Bürgerzentrum Neue Vahr stattfand, bot von allem ein wenig. Im übersichtlichen, großen Saal des Bürgerhauses präsentierten 22 außerschulische Partner ihre Projekte. Alle Anbieter waren zuvor von Sabine Heinbockel und der Serviceagentur "Ganztägig lernen" Bremen sorgfältig ausgesucht worden. Grob umrissen reichte das Spektrum der Unterstützungsangebote für die Ganztagsschulen von Natur und Ökologie über Kunst und Kultur bis Sport und Soziales: "Wer in den Pool der Anbieter aufgenommen werden wollte, musste schon pädagogisch ausgebildetes Personal vorweisen", so Heinbockel.

Eine Messe aus Schülerhand

Von außen unsichtbare, aber geübte Hände von Schülerinnen und Schülern haben den Service auf dieser Veranstaltung erst möglich gemacht. Die "Messe für Ganztagsschulen" in Bremen war nämlich als Kooperationsprojekt des Schulzentrums an der Walliser Straße entworfen worden. Insgesamt 15 Schülerinnen und Schüler, die den Beruf Veranstaltungskaufmann/-kauffrau im 3. Ausbildungsjahr lernen, legten Proben ihres Könnens ab - in einer lernfeldorientierten und fächerübergreifenden Umgebung. Standplanung, Dekoration, Kontakte zur Presse und zur Cateringfirma waren Teil der vorangegangenen Projektaktivitäten. Technik und diverse andere Handreichungen wie das Bedienen des Mikrofons gehörten schon zur Generalprobe.

Ein Berufsschüler reicht dem Sozialpädagogen Jörg Pfeiffer das Mikrofon. Das Hamburger Projekt "Kinderleicht", das Pfeiffer vorstellte, diente zur Illustrierung des Mottos "Mit Partnern lernen". Mit Partnern nämlich können Ganztagsschulen das scheinbar Unmögliche möglich machen. "Kinderleicht" ist ein im Stadtteil gewachsenes Kooperationsprojekt mit der Ganztagsschule Altonaer Straße, einer Grund-, Haupt- und Realschule. Noch im Jahr 2002 stand die Schule auf der Streichliste der Hamburger Bildungsbehörde, bis die Eltern das Heft in die Hand nahmen und mit der Neugestaltung des Schulhofes und der Einbeziehung des Quartiersmanagements der Schule neue Impulse und neuen Lebensmut einflößten.

"Kinderleicht" für sozial benachteiligte Familien

An der Schule wurde eine Planungsgruppe eingerichtet, die die Rhythmisierung des Schultages und die Einführung von Förderunterricht und Hausaufgabenbetreuung beschloss, während eine eigens eingerichtete Lenkungsgruppe für mehr Akzeptanz für die unausweichlichen Veränderungen bei den Lehrerinnen und Lehrern sorgte. Der neu formierten Ganztagsschule wurde - in Anlehnung an das Hamburger Modell - 159 Wochenstunden für Honorarkräfte zur Verfügung gestellt. Sie holte sich das Jugendhilfeprojekt "Kinderleicht" an Bord, das Kinder und Eltern befähigen soll, sich eigenverantwortlich für das Gelingen der Schullaufbahn einzusetzen.

Die rund 200 Kinder, die in den Klassen 1 bis 4 durch "Kinderleicht" betreut werden, sind durch besondere psychische Schwierigkeiten vorbelastet und stammen häufig aus Familien, in denen die Eltern bereits in der zweiten oder dritten Generation Sozialleistungen beziehen. "Beim Einstieg in die Schullaufbahn benötigen gerade diese Kinder eine besondere Hilfe. Häufig versuchen sie, ihre durch den Schuleintritt plötzlich zutage tretenden Defizite im Lernverhalten, aber auch die der häuslichen Ordnung - sie kommen zu spät, haben das Unterrichtsmaterial nicht, sind hungrig - durch ,Nebenschauplätze' zu überdecken, indem sie stören, streiten, sich entziehen etc.", so die eindringliche Botschaft des Leitfadens der Jugendhilfeeinrichtung "Kinderleicht".

Durch das Kooperationsprojekt zwischen "Kinderleicht" und der Ganztagsschule werden die Kinder und Familien rechtzeitig zum Schulanfang in den Wirkungskreis zweier kooperierender Institutionen einbezogen. Die Angebote und Methoden der Jugend- und Familienhilfe tragen somit zur gelingenden Schulsozialisation bei: "Wir gehen in den Unterricht und in die Familien, um an den Schnittstellen zwischen Schule und Jugendhilfe einzugreifen", so Pfeiffer. Einen Wermutstropfen gibt es aber doch: Das Projekt, das durch eine externe Prozessbegleitung flankiert wird, ist bis Februar 2007 befristet.

Herr Bothmann von der Schulaufsicht oder Bildungsfinanzierung in Zeiten leerer Kassen

Fragen der Bildungsfinanzierung begleiteten Otto Bothmann während seines Rundgangs durch die Messe der Ganztagsschulen auf Schritt und Tritt - spätestens dann, wenn er die Frage stellte: "Wie finanzieren Sie denn Ihr Angebot?" Zwar sind die öffentlichen Kassen leer, "Geld ist aber genug da", meinte der Leiter der Schulaufsicht beim Senator für Bildung.

Bremen ist nach Hamburg die Stadt mit der höchsten Millionärsdichte, gleichzeitig verzeichnet der Stadtstaat die höchste Kinderarmut in Deutschland. "Fundraising" heißt deswegen die Zauberformel für Bothmann. Wie kommen die Bildungsanbieter an brachliegende Mittel heran? Der Begriff "Fundraising" leitet sich aus dem Englischen ab ("fund" bedeutet Kapital, "to raise" beschaffen) und ist das Äquivalent zum deutschen Wort "Mittelbeschaffung", zielt also auf das systematische Verfahren von Nonprofit-Organisationen ab, Gelder und andere Mittel von Privatpersonen, Unternehmen, Stiftungen oder dem Staat zu beziehen, so Michael Urselmann in seinem Buch "Fundraising - Erfolgreiche Strategien führender Nonprofit-Organisationen".

Geschenke hat der Stadtstaat Bremen - auch wenn er es noch so wünschte - keine zu verteilen, die öffentlichen Kassen sind leer. Das Geld liegt Bothmann zufolge ganz woanders. Seine Eigentümer warten darauf, etwas von ihrem Vermögen sinnvollen sozialen Projekten oder der Bildungsfinanzierung zukommen zu lassen. Man müsse auf diese Kreise engagiert zugehen, sollte allerdings ihre Codes - also Umgangsformen, Kommunikationsstile, den ganzen Habitus - berücksichtigen. Sein Chef, Bildungssenator Willi Lemke, nutze diese Kontakte besonders gern - und mit reichlich Erfolg. Viele Vermögende könne man durch "Round Tables, Seniorentreffen und ähnliches gezielt ansprechen", meint der ehemalige Grund-, Haupt- und Realschullehrer, der 1989 in die Behörde gewechselt ist. Dort lernte Bothmann die Steuerungsmechanismen einer großen Behörde kennen - und den Druck, den PISA erzeugt hat.

Kein Geld, aber sein enzyklopädisches Netzwerkwissen konnte Bothmann in die Waagschale werfen. Da zählen insbesondere Kontakte: "Sprechen Sie mal mit dem oder derjenigen, die können Ihnen vielleicht weiterhelfen", rät er seinen Gesprächspartnern. Das Projekt "Rockmobil" zum Beispiel. Drei Mädchen, um die 15 Jahre alt, sitzen umgeben von E-Gitarren und Schlagzeug zusammen. "Rockmobil" möchte keine Stars und Sternchen hervorbringen, sondern jungen Mädchen Selbstvertrauen geben und die Organisation bereitstellen, damit sie sich trauen, eine eigene Band zu gründen. Die dafür nötigen Räume werden ihnen von "Rockmobil" gestellt. Im Rahmen des Projektes treten immer wieder bestimmte Probleme auf. Ein türkischer Vater verbot seiner Tochter, auf der Bühne aufzutreten. Bothmann empfahl der Projektleiterin von Rockmobil: "Nehmen Sie Kontakt mit der Auslandsbehörde auf, sprechen Sie mit Herrn X".   

Eine Bühne gesellschaftlicher Institutionen

Der Leiter der Bremer Schulaufsicht setzte seinen Rundgang durch die Messe der vielen Möglichkeiten fort. "Was kann ich von Ihnen für meinen Chef mitnehmen?", fragte Bothmann ein ums andere Mal die Ansprechpartner an den Ständen der 22 Aussteller. Es war nicht die Vielfalt der außerschulischen Bildungsangebote alleine, die die Besucherinnen und Besucher für die Partner der Ganztagsschulen einnahm. Die Messe war nicht nur Spiegelbild, sie war eine Bühne jener gesellschaftlichen Institutionen, die das gegenwärtige und zukünftige Gesicht der Ganztagsschulen prägen.

Wilfried Schäfer
Wilfried Schäfer vom Landessportbund Bremen möchte die Sportvereine auf die Zusammenarbeit mit den Ganztagsschulen einstimmen.

Ob gewerkschaftliche Fragen und antirassistische Jugendprojekte durch den DGB in die Schulen getragen oder außerschulische Lernorte durch Museumsbesuche der Kunsthalle Bremen und Kreativworkshops erschlossen werden, die Natur durch den BUND oder Jugendhilfeangebote durch den Bremer Jugendring - jüngst hat der Bremer Senat den Auftrag erteilt, Schulen und Jugendhilfe stärker zusammenzuschließen. "Was können wir machen, damit es uns beiden gut geht?", lautete die exemplarische Frage Bothmanns an den Vorsitzenden des Bremer Sportbundes. "Wenn Ihr als Vereine die Entwicklung verpennt, machen es die anderen", warnte Bothmann, der auch Vorsitzender eines Bremer Sportvereines war.

Mehr Eigenverantwortung für alle

So sieht die Wirklichkeit aus: Die Schulen verändern sich, sie erkunden andere Lernorte, praktizieren das selbstentdeckende Lernen, bieten erlebnisorientierten Unterricht an, kurz: Sie schärfen ihr Profil, kooperieren mit Partnern oder - sie werden mangels Perspektive geschlossen. Dass sich Otto Bothmann für den Rundgang der Messe vom Anfang bis zum Ende der Veranstaltung so viel Zeit nimmt, empfindet Heinbockel als "echte Anerkennung" ihrer Arbeit in Bremen. Es ist wohl auch Ausdruck eines neuen Ansatzes in der Bildungspolitik.

Wohin die Reise geht, zeigt nämlich ein anderes Bildungsprojekt, das vom "Universum Science Center Bremen" angeboten wird und aus der Universität heraus entwickelt wurde. Dort können die Schulen im Rahmen von Projekttagen des "Expeditionsreporter on tour" Wissenschaft zum Anfassen erleben, "wie es in den USA üblich ist", so Bernd Becker, Leiter Bildung bei Universum. Schülerinnen und Schüler können die Wissenschaft spielerisch erkunden, Wunder der Wissenschaft werden in künstlerisch gestalteten Erlebnisräumen erkundet, und dann dürfen sie diese auf journalistische Weise darstellen. "Farbe kann man riechen", "Schall sehen", heißen die Themen. Der Beweis dafür wird vor Ort auf der Messe ausgeführt. Otto Bothmann hält eine brennende Kerze in der Hand, rund zehn Meter Luftlinie daneben schlägt Bernd Becker auf eine Trommel: Die Flamme geht aus, die Schallwellen werden fassbar.

Zwischen Wissenschaftsstandort und Humboldtschem Bildungsideal

"Wir haben begriffen, dass Bildung ein riesiger Standortfaktor ist", erklärt Becker. In der Zusammenarbeit zwischen der Schule und dem Universum, das architektonisch wie ein "gestrandeter Wal" anmutet, "tut sich unheimlich viel". Die Universität Bremen habe im Rahmen der Exzellenzinitiative des BMBF einen Spitzenplatz erreicht. Der Kreis schließt sich für Otto Bothmann: PISA-Druck, Stärkung der Schulen durch das Ganztagsprogramm des Bundes, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, aber am meisten zählt, dass die Schulen sich im Interesse der Schülerinnen und Schüler "inhaltlich entwickelt, dass sie sich nach vorne bewegt haben".

Am Ende zeigte die Messe wie ein Zukunftsspiegel deutlich auf, dass die Schulen die Gratwanderung zwischen den Anforderungen des Wissenschaftsstandortes, dem Humboldtschen Bildungsideal und einem sozialen Auftrag hinbekommen müssen. Sie haben keine andere Wahl, als mehr Eigenverantwortung zu wagen.

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