Kreativen Geist im Ganztag bewahren : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die dreitägige Fachtagung des Bundesnetzwerks Ganztag und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung stellte die Folgen der Corona-Pandemie für die Bildung von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt.

Mit dem Motto „Ganztag – gemeinsam zukunftsorientiert“ und dem Untertitel „Der Kompass aus der Pandemie – weil Schule mehr ist als Unterricht“ war die Messlatte hoch gelegt. Doch, was der von den Veranstaltern, dem Bundesnetzwerk Ganztag und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, gewählte Titel versprach, hielt die dreitägige Online-Fachtagung tatsächlich.

Einblicke aus der Wissenschaft in die aktuelle Bildungs- und Gefühlslage der Schülerinnen und Schüler wechselten mit spannenden Praxisbeispielen und einem Blick in die Zukunft. Letzterer, das wurde deutlich, stellt Ganztagsschulen, aber auch ihre Unterstützer wie die Serviceagenturen in den Bundesländern vor neue Herausforderungen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des verabschiedeten Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter ab 2026.

Unterstützung für Ganztagsschulen weiter gewünscht

Um die Chronologie der drei Tagungstage umzudrehen, sei der am dritten Tag von vielen der knapp 300 Teilnehmenden geäußerte Wunsch an den Anfang gestellt: Ganztagsschulen wünschen sich auch künftig die fachkundige Begleitung von außen. Das Bundesnetzwerk und die DKJS wollen ihren Beitrag dazu leisten. Zwölf Bundesländer haben sich dem Netzwerk angeschlossen, um im Austausch zu bleiben, Wissen und Informationen zu bündeln oder „das Rad nicht immer neu zu erfinden“, wie es Annekathrin Schmidt, die Leiterin der Serviceagentur Ganztag Berlin, formulierte.

Annekathrin Schmidt
Moderatorin Annekathrin Schmidt von der Serviceagentur Ganztag Berlin. © DKJS

Gemeinsam mit Michael Schmitt, dem Leiter der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ in Hessen in Frankfurt am Main, moderierte sie die Fachtagung. Das Netzwerk, dem derzeit zwölf Länder angehören, befindet sich in einer neuen Startphase und knüpft an seine langjährige länderübergreifende Arbeit im Programm „Ganztägig bilden“ an. „Darum überlegen wir auch, wo und wie wir sichtbar und ansprechbar sein können“, erläuterte Annekathrin Schmidt. Tipp für alle, die mit dem Netzwerk in Kontakt treten wollen: Melden Sie sich bei Ihrer Serviceagentur oder Ihrem Landesinstitut!

„Die Angebotsqualität macht den Unterschied“

Mit dem Blick aus der Wissenschaft wurden dafür zahlreiche Impulse gesetzt, etwa durch Prof. Dr. Kai Maaz, den geschäftsführenden Direktor und Leiter der Abteilung „Struktur und Steuerung des Bildungswesens“ im DIPF – Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Er bedauerte einerseits das Fehlen gesicherter Daten über Auswirkungen der Pandemie, konnte zugleich aber auf einige Erkenntnisse etwa aus Hamburg verweisen.

Danach hat sich die Zahl leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler im Lesen und in der Mathematik um zehn bzw. neun Prozent erhöht. Maaz: „Das stellt eine besondere Herausforderung für die Lehrkräfte dar.“ Zumal sich die Lerngeschwindigkeit verlangsamt habe. Doch Maaz betonte: „Wir dürfen nicht nur auf den kognitiven Bereich schauen, sondern müssen auch die psychosoziale und emotionale Entwicklung in den Blick nehmen.“

65 Prozent der Schülerinnen und Schüler erlebten die Schule als anstrengender. 71 Prozent fühlten sich durch die Kontaktbeschränkungen belastet. Bei 39 Prozent habe sich das Verhältnis zu Freunden verschlechtert. Der Ganztag biete eine besondere Chance, diese Verluste abzufedern, vorausgesetzt, er halte gute, motivierende Angebote parat. Denn: „Die Angebotsqualität macht den Unterschied. Ganztag muss Räume schaffen für Selbstentfaltung“, meinte er.

Professionalisierung des pädagogischen Personals

Michael Schmitt
Moderator Michael Schmitt von der hessischen Serviceagentur in Frankfurt am Main. © Serviceagentur Hessen

Das Stichwort Qualität griff Prof. Dr. Marianne Schüpbach gerne auf. Die Professorin für Grundschulpädagogik an der Freien Universität Berlin, die auch Mitglied des internationalen Forschungsnetzwerks WERA-IRN Extended Education ist, verwies auf Untersuchungen aus den USA: Ein längerer Besuch qualitativ hochwertiger außerunterrichtlicher Angebote wirke sich positiv auf die Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern aus. Doch hochwertige Angebote erforderten eine entsprechende Qualifikation der Lehrkräfte, aber auch des weiteren pädagogischen Personals wie der Erzieherinnen und Erzieher.

Schüpbach plädierte für eine Professionalisierung durch Akademisierung aller pädagogischen Professionen über die Lehrerausbildung hinaus: „So können eine pädagogische Basis und ein gemeinsames Bildungsverständnis entwickelt werden.“ Sie warb für mehr Programme, die die Fähigkeit zur Kooperation der Professionen und das Verständnis füreinander stärkten. Ein solches Programm bietet die FU Berlin seit 2019 in Zusammenarbeit mit der Akademie für Ganztagsschulpädagogik an.

Eine inhaltliche Ergänzung stellte der Vortrag der Psychologin Prof. Dr. Karina Weichold von der Friedrich-Schiller-Universität Jena dar. Sie berichtete detailliert einige Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche, etwa die Auswirkungen für 16- bis 19-Jährige auf das jugendliche Selbstkonzept. Das Robert-Koch-Institut habe bei Schülerinnen und Schülern auch eine deutliche Steigerung etwa von Hyperaktivität und emotionalen Problemen bis hin zu Depressionen registriert. Bauchmerzen, Niedergeschlagenheit, Einschlafprobleme und Kopfschmerzen hätten durch den Bewegungsmangel zugenommen.  

Die Krise zeigt auch Gestaltungsmöglichkeiten

Auch Karina Weichold sieht im Ganztag „ideale Voraussetzungen, umfassende Maßnahmen gegen die Corona-Folgen zu implementieren“. Die Lehrkräfte und das pädagogische Personal sollten „keine Psychologen werden, aber wachsam bleiben für psychosoziale Anpassungsstörungen“. Sie betonte aber auch, dass natürlich nicht alle Kinder und Jugendlichen Symptome entwickeln und sah sogar positive Effekte wie mehr Zusammenhalt in einigen Familien.

Fritz-Karsen-Schule Schülerzeitung
... und im „Fritz-Blitz“ der Fritz-Karsen Schule Berlin. © Fritz-Karsen-Schule

Die Unterschiedlichkeit der Betroffenheit unterstrich später die angehende Abiturientin Anna-Lena Rehm (18) aus der 13. Klasse der Fritz-Karsen-Schule Berlin. „Ich habe das Gefühl, als fehle mir etwas in meiner Ausbildung. Aber ich kann schon selbstständig arbeiten. Schwieriger haben es viele aus unserer Mittelstufe. Vielen fällt es schwer, wieder in den Schulalltag hereinzukommen und mit anderen zusammenzuarbeiten.“

Das Fehlen stabiler Beziehungen sieht die Ganztagskoordinatorin Sabine Schratzberger-Kock von der Offenen Ganztagsschule Wentorf bei Hamburg als ein Hauptproblem der Schule in der Pandemie. Aber sie wagte auch einen positiven Blick nach vorne: „Wir als Vor- und Nachmittagsteam sind in dieser Zeit zusammengewachsen. Das wollen wir beibehalten, denn wir haben, wie die Krise zeigt, noch Gestaltungsmöglichkeiten, von denen wir zuvor nichts ahnten.“

Draußenpädagogik als Lernbasis

Die Qual der Wahl hatten die Teilnehmenden am zweiten Tag der Fachtagung bei der Entscheidung, welchem der zwölf Praxisbeispiele von Ganztagsschulen aus neun Bundesländern sie lauschen wollten. Die Themen reichten von Erfahrungen im Umgang mit der Pandemie wie dem „Zusammenhalt“ in der Grundschule „Josephine“ in Dresden oder der „Organisation von Lernen und Fördern“ im Eldenburg-Gymnasium Lübz über selbstgesteuerte Lernzeiten in der Grundschule Saarbrücken-Scheidt bis zum Konzept „Ganztägige Mobilität“ der IGS Flötenteich in Oldenburg, Fragen der digitalen Bildung in der Grundschule Heidenberger Teich in Kiel bis zum Schul-Podcast der Oberschule an der Kurt-Schumacher-Allee in Bremen. Beispielhaft seinen zwei Praxisbeispiele aufgegriffen.

„Folgen der Pandemie begegnen – Schüler:innen als Lehrkräfte“ hatte Grit Wiegner ihr Praxisbeispiel des Georgius-Agricola-Gymnasiums Glauchau (Sachsen) überschrieben. Seit anderthalb Jahrzehnten existiert hier eine Schülerfirma. Sie „beschäftigt“ leistungsstarke und speziell geschulte Schülerinnen und Schüler, die als „Lehrkräfte“ bezeichnet werden. Sie bieten Nachhilfe insbesondere für Jüngere an. Dass dies eine wichtige und gerne angenommene Unterstützung darstelle, hob der ehemalige Gymnasiast Lennart hervor. Grit Wiegner ergänzte: „Für uns Lehrkräfte ist das eine wertvolle Unterstützung unserer Arbeit, insbesondere bei der Bearbeitung pandemiebedingter Bedarfe.“

Schüler
Schule Hegelsberg in Kassel: „Lernen braucht gute Beziehungen“ © Britta Hüning

Ebenfalls seit vielen Jahren kennzeichnet die „Draußenpädagogik“ die tägliche Arbeit der Ganztagsgemeinschaftsschule Neunkirchen (Saarland). Regelmäßig geht es mit dem schuleigenen gelben „amerikanischen“ Schulbus in den Wald. Wer aber glaubt, es handele sich um „Kuschelpädagogik“, wenn die Schülerinnen und Schüler gemeinsam eine Hütte bauen, irrt. Mathematische und kommunikative ebenso wie handwerkliche Kompetenzen sind gefragt. Und es herrschen klare Strukturen.

Schulleiter Clemens Wilhelm und seine 13- bzw. 14-jährigen Co-Referentinnen Zoé und Kim machten bei ihrer Präsentation auf einen wichtigen Wert aufmerksam, der in dieser von der Pandemie geprägten Zeit wohl noch wichtiger als ohnehin schon ist: „Lernen gelingt nur mit Identifikation und einer guten Beziehung.“

Bitte kein Gewitter im Hühnerstall

Das Schlusswort blieb Prof. Kai Maaz vorbehalten. Wie viele der Referentinnen und Referenten, Teilnehmenden und Diskutierenden wünschte er sich, dass die Erfahrungen der Coronazeit der Ganztagsschulentwicklung nochmals einen Schub geben. Seine Formulierung löste Schmunzeln aus: „Nicht, dass es wie bei einem Gewitter im Hühnerstall ist. Alles läuft aufgeregt herum. Wenn das Gewitter vorüber ist, sitzt jedes Huhn wieder an seinem Platz. Lassen Sie uns den kreativen Geist bewahren.“  

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