Koordination im Ganztag – ein Kommunikationsknoten : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

„Ganztagskoordination“ heißt, unterschiedliche Profile, Haltungen und Erfahrungen zu einem Ganzen zu entwickeln. Dr. Anna-Maria Seemann leitet die Fortbildungen dazu an der Akademie für Ganztagspädagogik.

Online-Redaktion: Wer und was verbergen sich hinter der Akademie für Ganztagspädagogik?

Dr. Anna-Maria Seemann: Unsere Akademie ist Träger von Ganztagsangeboten, beteiligt sich an Forschungsprojekten und bietet vor allem Fortbildungen rund um dieses Thema an. Als wir, Heike Maria Schütz, Dr. Volker Titel und ich, 2014 die Akademie für Ganztagspädagogik gründeten, spürten wir sehr schnell das Interesse – auch außerhalb Bayerns. Insbesondere Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger wollen sich weiterbilden, sich intensiv mit dem Thema Ganztag beschäftigen. Die meisten melden sie sich zu unseren Fortbildungen an, wenn sie bereits an einer Ganztagsschule tätig sind. Dann kommt ihnen entgegen, dass unsere Fort- und Weiterbildungen berufsbegleitend wahrgenommen werden können.

Online-Redaktion: Welche Fortbildungen bieten Sie an? 

Seemann: Zum einen handelt es sich um einen 500 Seminarstunden umfassenden Lehrgang „Fachpädagoge/Fachpädagogin für Ganztagsschulen“. Der kann inzwischen an vier Standorten belegt werden: in Gräfenberg und Traunstein (Bayern), in Elmshorn (Schleswig-Holstein) und bald auch in Heppenheim (Hessen). Der berufsbegleitende Lehrgang schließt mit einem Zertifikat der Industrie- und Handelskammer ab. Ein zweiter Lehrgang richtet sich an Personen, die den Offenen Ganztag auf Seiten des Kooperationspartners leiten wollen. In Bayern schlüpfen die Absolventinnen und Absolventen dann automatisch in die Funktion der OGTS-Koordinatorin beziehungsweise des OGTS-Koordinators.

Berufsbegleitende Fort- und Weiterbildung für den Ganztag
Berufsbegleitende Fort- und Weiterbildung für den Ganztag © Britta Hüning

Online-Redaktion: Wer hat das Konzept für die Fortbildung „OGTS-Koordinator/-in“ entwickelt?

Seemann: Das Rahmenkonzept zum Lehrgang hat das ISB, das Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung des Freistaates Bayern vorgegeben. Die Inhalte wurden gemeinsam mit uns und anderen Fortbildungsinstituten entwickelt. Der Kurs umfasst 120 Stunden. Die Teilnehmenden absolvieren davon 80 Stunden in zwei Präsenzwochen und 40 Stunden daheim anhand von eigens konzipierten Studienbüchern, die in zwei schriftlichen „Hausaufgaben“ münden. Zwei wesentliche Schwerpunkte der Ausbildung sind neben der Pädagogik die Koordinationsaufgaben in der Ganztagsschule sowie die dafür erforderliche Kommunikation.

Online-Redaktion: Die Koordination des Ganztags ist eine anspruchsvolle Aufgabe, was sind besondere Herausforderungen?

Seemann: Wenn man von Ganztagsschule spricht, kommt man schnell zum Thema multiprofessionelle Teams. Ohne Zweifel liegen in der Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen im Ganztag enorme Chancen und Potenziale. Denn jede Profession hat einen anderen Blick auf das Kind. Aus der Vielzahl der Sichtweisen resultiert im optimalen Fall ein Bild von der Persönlichkeit des Kindes oder Jugendlichen und eine Idee, wie diese besonders gefördert werden kann.

Doch diese manchmal bunte Mischung des Teams bedeutet auch eine große Heterogenität. Es treffen sich unterscheidende pädagogische Selbstverständnisse aufeinander. Es gilt also, diese unterschiedlichen professionellen Profile, Haltungen und Erfahrungen in der Ganztagsschule im Interesse der Schülerinnen und Schüler zu erkennen, zu bündeln und zu einem gemeinsamen Bildungs- und Erziehungsverständnis zu entwickeln.

Online-Redaktion: Kein leichtes Unterfangen für jemanden, der seine Wurzeln nicht unbedingt im Lehramtsstudium hatte, von „außen“ kommt und dann Schulentwicklung anstoßen soll…

Studienheft "Projektmanagement"
Studienheft "Projektmanagement" © Akademie für Ganztagsschulpädagogik

Seemann: Eines vorweg: Ohne die Unterstützung und den klaren Wunsch der Schulleitung, dass alle Beteiligten gleichermaßen zur Schulentwicklung beitragen, steht eine Ganztagskoordinatorin auf ziemlich verlorenem Posten. Die Haltung der Schulleitung öffnet Türen und Möglichkeiten. Die größte Herausforderung für die Koordination des Ganztags liegt dann in der erforderlichen Kommunikation. Der Koordinator oder die Koordinatorin wird zum Kommunikationsknoten – übrigens nicht nur intern, sondern auch extern.

Denken Sie nur an den Kontakt zu den Eltern. Die Fähigkeit dazu muss eine Person mit Koordinierungsaufgaben ebenso unabdingbar erwerben, wenn sie sie nicht schon mitbringt, wie die Fähigkeit, zu vermitteln, Kompromisse auszuloten und Prozesse zu moderieren. Sie benötigt Geduld, Beharrlichkeit, Organisationstalent und den Wunsch, den Offenen Ganztag dahin zu bringen, dass er Unterricht und Außerunterrichtliches verzahnt.

Online-Redaktion: Wie stark sollte die Person, die die Koordination übernimmt, im Umfeld der Ganztagsschule vernetzt sein?

Seemann: Eine gute Vernetzung ist vonnöten – gleichgültig, ob sie schon besteht oder noch „gesponnen“ werden muss. Denn es steht außer Frage, dass Ganztag ohne den Draht nach außen schwieriger zu gestalten ist. Sie benötigen außerschulische Partnerinnen und Partner, sind im besten Fall ein Teil einer regionalen Einheit. Da ist es natürlich hilfreich, wenn die koordinierende Person die „Player“ vor Ort kennt und bereits ein Vertrauensverhältnis wachsen konnte. 

Online-Redaktion: Finden diejenigen, die sich dieser Aufgabe stellen, dafür ausreichend Zeit?

Seemann: Das ist das entscheidende Stichwort! Ich würde sogar sagen: der entscheidende Knackpunkt. Koordinatorinnen und Koordinatoren werden nur erfolgreich sein, wenn sie von ihrem Träger neben der eigenen Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern ausreichend Raum und Zeit für die Ausgestaltung des Ganztags zugestanden bekommen. Dafür wiederum müssen die staatlich gesetzten Rahmenbedingungen stimmen. Denn Zeit ist erforderlich für Reflexion, Austausch und Aushandlung, wenn es darum geht zu klären, was Bildung, Erziehung und Schule bewirken sollen, wo sich eine Schule hin entwickeln möchte und wer für was zuständig sein soll.

Jede Profession hat einen anderen Blick auf das Kind.
Jede Profession hat einen anderen Blick auf das Kind. © Britta Hüning

Online-Redaktion: Wäre es nicht sinnvoller, dass die Koordinierungsaufgaben von der Schule, im optimalen Fall aber von einem Tandem beider Seiten übernommen würden?

Seemann: Es gibt in der Tat Bundesländer, die diese Aufgabe eher bei der Schule sehen. In aller Regel haben ja nach den Schulgesetzen die Schulleitungen den „Hut“ auf, also die Gesamtverantwortung für die Schule. Doch ebenso normal ist inzwischen, dass die Aufgabe der Ganztagskoordination delegiert wird, beispielsweise an die Träger des Ganztagsangebots, egal, wo sie herkommen. Optimal wäre in der Tat ein Tandem, bestehend aus der Leitung des Ganztags beim Träger und einem von der Schule mit der Ganztagskoordination beauftragten Mitglied des Kollegiums, sodass beide die Ideen und die ausgehandelten Dinge wieder in ihre jeweiligen Teams tragen, erläutern und plausibel machen können.

Online-Redaktion: Und schon sind wir wieder beim gerne zitierten Miteinander auf Augenhöhe. Wie kann das gelingen?

Seemann: Miteinander auf Augenhöhe erfordert in erster Linie die Akzeptanz der jeweils anderen Profession – unabhängig von den dahinter stehenden Qualifikationsstrukturen. Im Klartext: Bei diesem Miteinander darf nicht entscheidend sein, ob jemand studiert oder eine andere Form der Qualifikation gewählt und erfolgreich abgeschlossen hat. Man muss der Fairness halber sagen, dass es für manche Schule immer noch etwas Neues und Ungewohntes darstellt, sich zu öffnen und andere Professionen zu schätzen. Gerade deshalb sind wir sehr überzeugt, dass gemeinsame Fortbildungen erforderlich sind. Durch sie kann das Verständnis für andere, ihre Beweggründe und ihr pädagogisches Verständnis gefördert werden. Dabei geht es für alle, um auch das zu betonen, um ein Verständnis des Ganztags, dem nicht nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zugrunde liegt, sondern in dem Bildung und Erziehung sowie die Stärkung der Chancengleichheit den Vorrang haben.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Dr. Anna-Maria Seemann (Jg. 1975) ist 2. Vorsitzende und Fortbildungsleiterin der Akademie für Ganztagspädagogik, die sie 2014 gemeinsam mit Heike Maria Schütz (Leitung) und Dr. Volker Titel (Wissenschaftliche Koordination) gegründet hat. Nach dem Studium der Erziehungs- und Musikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin und einem Weiterbildungsstudium zur Betriebswirtin wurde sie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg promoviert und erhielt dort 2017 den Lilli-Bechmann-Rahn-Preis für herausragende Promotionen für ihre Studie über Wissenschaftsverlage im geteilten Deutschland. Von 2018 bis 2022 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik der Universität Bamberg. Sie ist Vorstandsmitglied im Ganztagsschulverband e.V. und Mitherausgeberin der Reihe „Ganztagsschule in Theorie und Praxis“ bei AfGmedia.

Veröffentlichungen u.a.:

Seemann, A.-M. (2022): Multiprofessionelle Teams in der Ganztagsschule: Pädagogik, Personal, System. In: Weimann-Sandig, N. (Hg.), Multiprofessionelle Teamarbeit in Sozialen Dienstleistungsberufen. Interdisziplinäre Debatten zum Konzept der Multiprofessionalität – Chancen, Risiken, Herausforderungen. Wiesbaden 2022 [im Druck].

Seemann, A.-M. (2021): Schulische Ganztagsangebote. In: Titel, V.: Medienbildung und Literacy in Kindergarten und Schule. Lehr- und Praxisbuch. Hiltpoltstein: AfG media, S. 335–356.

Seemann, A.-M. (2020): Ganztagsschule und Corona in Bayern – Zwischenstand und Ausblick. Die Ganztagsschule, Heft 59, 97–102.

Seemann, A.-M. (2019): Personalqualifikation und Personalentwicklung. Qualitätskriterien für die Ganztagsschule. In: Ganztagsschule – was nun? Impulse und Strategien für die Schule vor Ort. Hiltpoltstein: AfG media, S. 62–67.

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