Ganztagsschulverband Hessen: „Mehr vom Gleichen reicht nicht“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Werner Burggraf war Lehrer in der ersten hessischen Ganztagsschule. Nach Jahrzehnten als Lehrer und Schulleiter engagiert er sich nun im Vorstand des Ganztagsschulverbandes.

Werner Burggraf auf dem Hessischen Ganztagsschulkongress
Werner Burggraf auf dem Hessischen Ganztagsschulkongress © Redaktion www.ganztagsschulen.org

Online-Redaktion: Herr Burggraf, der Ganztagsschulverband Hessen ist mit einem Stand auf dem Hessischen Landeskongress präsent gewesen. Was sind die Fragen und Anliegen, mit denen Sie am Stand konfrontiert wurden?

Werner Burggraf: Das ist natürlich unterschiedlich, aber ich greife ein Beispiel heraus: Eine Sozialarbeiterin hat sich an uns gewandt. Ihre Schule überlegt, Ganztagsschule im „Pakt für den Nachmittag“ zu werden. Interessanterweise ist diese Sozialarbeiterin von der Stadt als Ganztagskoordinatorin eingesetzt worden. Bis jetzt gibt es an dieser Schule eine Kinderbetreuung, die von Mitarbeiterinnen der Gemeinde durchgeführt wird. Die Lehrkräfte sind außen vor. Durch den „Pakt für den Nachmittag“ würde sich das ändern. Die Lehrerinnen und Lehrer müssten nun bis 14.30 Uhr bleiben. Wie das organisatorisch durchgeführt werden kann und jetzt die Mittel des Landes und der Gemeinde ausreichend eingesetzt werden können, haben wir gemeinsam durchgerechnet.

Es müssen auch rechtliche Fragen berücksichtigt werden, wir möchten die Kolleginnen und Kollegen bewahren, dort Fehler zu begehen. Im Vordergrund steht aber natürlich die Frage, wie vor Ort ein guter Ganztag für alle Beteiligten entstehen kann. Das ist ein spannender Prozess. Manche Schulvertreter kommen auch mit der Frage, warum es nicht mit ihrem Wechsel in ein neues Ganztagsprofil geklappt hat. In vielen Schulen ist eine hohe Motivation und eine hohe Bereitschaft vorhanden, mit der Weiterentwicklung ihres Ganztags noch besser auf die Interessen der Schülerinnen und Schüler einzugehen.

Online-Redaktion: Welche Angebote bezeichnen die Ganztagsprofile 1, 2 und 3 im Hessischen Ganztagsprogramm?

Burggraf: Die Profile unterscheiden sich grob gesagt durch den zeitlichen Umfang und die Verbindlichkeit der Angebote. Alle Profile müssen die acht Kriterien des Hessischen Qualitätsrahmens erfüllen. In Profil 1 „Schulen mit Ganztagsangeboten“ umfasst das Angebot mindestens sieben Zeitstunden an drei Tagen bis 14.30 Uhr. Das Profil 2 umfasst Angebote an fünf Tagen in der Woche von 7.30 Uhr bis 16 oder 17 Uhr. Die Teilnahme der Schüler ist freiwillig, aber nach Anmeldung durch die Eltern verpflichtend.

Schule
© Britta Hüning

Das Profil 3 „Ganztagsschulen“ entspricht mit einer vollwertigen rhythmisierten Ganztagsschule den Vorstellungen unseres Verbandes. Von 7.30 Uhr bis 16.30 oder 17 Uhr erhalten die Schüler zusätzliche Angebote, die für alle beziehungsweise Ganztagsklassen oder -jahrgänge verbindlich sind. Der Tagesablauf ist rhythmisiert. Die Profile erhalten unterschiedliche prozentuale Zuweisungen an Lehrerstellen bezogen auf die Grundversorgung nach Stundentafel und Schülerzahl.

Neu für Grundschulen ist der „Pakt für den Nachmittag“. Auf der Grundlage eines Kooperationsvertrages zwischen Kultusministerium und dem jeweiligen Schulträger bieten die Grundschulen an fünf Tagen in der Woche eine Betreuung bis 17 Uhr an. Das Land sichert durch einen Schülerfaktor die Betreuungszeit bis 14.30 Uhr ab. Der Schulträger ergänzt dann die verlässliche Betreuungszeit bis 17 Uhr unter Kostenbeteiligung der Eltern. Der Qualitätsrahmen gilt auch für dieses Modell der Betreuung.

Online-Redaktion: In Hessen ist gerade wegen des Pakts für den Nachmittag viel Bewegung in der Ganztagsschullandschaft. Merken Sie das auch als Verband?

Burggraf: Der Bedarf nach Information und Konzepten ist hoch. Unsere Tagungen sind ausgebucht, 300 und mehr Anmeldungen sind keine Seltenheit, sodass wir Anmeldungen ablehnen müssen. Eine Gruppe, die bei uns Beratung sucht, sind die Junglehrerinnen und -lehrer, die an einer ganztägig arbeitenden Schule eine Stelle angetreten haben, so wie ich vor circa 40 Jahren.

Daher gilt es vor allem Fragen der Ganztagsschulentwicklung in der Lehrerbildung und -ausbildung zu verankern, denn die Ganztagsschule muss bei den zukünftigen Lehrkräften gestärkt werden. Studien zeigen, dass die Ganztagsschule noch lange nicht „Wunschmodell“ der Lehrerschaft ist. Wir haben als Verband erreichen können, dass bei Ausschreibungen für Funktionsstellen fundierte Erfahrungen in der Steuerung und Evaluation des Ganztags vorausgesetzt werden.

Online-Redaktion: Sie beraten auch persönlich Ganztagsschulen. In welchem Umfang?

Burggraf: Momentan gibt es zwei Schulen, die mit mir zusammenarbeiten. Die eine Schule möchte als Ganztagsschule starten. Da eruieren wir den Ist-Stand, hinterfragen die Ideen, die die Schule vom Ganztag hat, und erarbeiten ein Konzept. Das ist also eine Prozessbegleitung. Die andere Schule – und da sind wir wieder bei den rechtlichen Fallstricken – ist in eine rechtliche Auseinandersetzung verwickelt. Da geht es, grob gesagt, um Honorarverträge, das Vereinsrecht und Sozialversicherungsbeiträge. Da stoße auch ich an meine Grenzen, hier kümmert sich der Landesverband der Schulfördervereine.

Informationsstand
Informationsaustausch auf dem Hessischen Ganztagskongress in Wetzlar © Werner Burggraf

Manchmal rufen Schulen auch für ganz punktuelle Fragen an, wenn es beispielsweise darum geht, die Excel-Tabellen für den Stundennachweis korrekt auszufüllen, oder wenn Fragen um die Stundenzuweisung auftauchen. Eine Schule in Taunus bat um Beratung bei einem Antrag, der ihnen viel zu episch geraten war.

Online-Redaktion: Und gibt es auch pädagogische Fragestellungen, die an Sie herangetragen werden?

Burggraf: Eine häufige Frage ist, wie man von Hausaufgaben zu Lernzeiten kommt. Wie kann das stundenplantechnisch organisiert werden? Was bleibt für Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern dann zu Hause noch zu leisten? Welches Material kann man benutzen, mit dem die Kinder und Jugendlichen selbsttätig lernen können? Diese Änderungen in den Lernzeiten können auch auf die Lernformen des Unterrichtes ausstrahlen. Da kommen dann auch andere Stundenmodelle ins Spiel – weg von 45 Minuten zu 60 und 90 Minuten, damit der Tag sich beruhigt, es täglich weniger Fächer und Lehrer für die Schülerinnen und Schüler gibt.

Das Organisatorische ist immer leichter zu bewerkstelligen als das Pädagogische. Wenn jemand bestimmte Vorstellungen hat, wie sein Unterricht auszusehen hat, kann es schwierig sein, ihn für Neues zu gewinnen. Deshalb muss als Ausgangsfrage geklärt werden, welche Motivation die Schule hat, diese Schulentwicklung zu betreiben. Wenn dann zum Beispiel geantwortet wird, dass man mehr Lehrerstunden haben möchte, sage ich, dass ich das nachvollziehen kann, aber über den reinen Pragmatismus hinaus auch eine Idee oder eine Vision vorhanden sein muss, was die Schule mit der zusätzlichen Zeit anfangen möchte. Mehr vom Gleichen reicht nicht. Wenn da nichts ist, dann sage ich: Überlegt es euch lieber noch mal.

Online-Redaktion: Wenn eine Schule diese Vision entwickelt hat, was sind dann die nächsten Schritte?

Burggraf: Ganz wichtig ist es, die Eltern zu überzeugen. Dazu reicht es nicht aus, ihnen zu sagen, dass sie ihre Kinder wegen ihrer doppelten Berufstätigkeit doch anmelden könnten. Die Schule muss sie mit der Qualität ihres Ganztagskonzepts überzeugen. Dann brauche ich Projektmanagement, um die möglichen Stolpersteine herauszufinden und die ganze Schulgemeinde in den Prozess zu involvieren. Und man benötigt die Bereitschaft und den Mut gegenzusteuern, wenn Fehler gemacht worden sind – und es werden Fehler passieren.

Online-Redaktion: Haben Sie als langjähriger Schulleiter einen Erfahrungswert, wann die kritische Masse erreicht ist, um mit der Idee einer Ganztagsschule vor das Kollegium zu treten?

Schüler
Schule Schenkelsberg in Kassel © Britta Hüning

Burggraf: Man sollte sich nicht an den Widerständlern in einem Kollegium, die es immer gibt, abarbeiten, sondern sich mit den Gutwilligen, die etwas bewegen wollen, auf den Weg machen. Ich schätze, dass diese Gruppe bei etwa 50 Prozent eines Kollegiums liegt. Man muss dann aber aufpassen, dass sich diese Kolleginnen und Kollegen in ihrem großen Engagement nicht verausgaben. Den Indifferenten kann man gezielt persönliche Vorteile vor Augen führen. Das kann zum Beispiel eine AG sein, die ein Kollege mit seinem Hobby füllen kann. Und dann sollte man mit kleinen Schritten loslegen, damit sich auch Erfolgserlebnisse einstellen, und den Ganztag sukzessive ausweiten.

An einer meiner Schulen sind wir einmal mit fünf Schülerinnen und Schülern gestartet, die betreut werden mussten – und nach und nach meldeten immer mehr Eltern ihre Kinder an. Man sollte sich nicht täuschen: Auch auf dem Land gibt es nur noch wenige Einverdienerhaushalte, der Bedarf der Eltern ist absolut da. Wichtig ist es auch, das Umfeld einzubinden und diesem die Vorzüge und Fortschritte vor Augen zu führen. Eine schöne Mensa kann ein augenfälliges Beispiel für die Ganztagsschulentwicklung sein, das in die Gemeinde ausstrahlt.

Online-Redaktion: Sie haben selbst als Lehrer und Schulleiter in Ganztagsschulen gearbeitet. Was würden Sie als größte Herausforderungen bezeichnen, einen Ganztag zu organisieren, der für die Kinder eine optimale Lern- und Lebenswelt bildet?

Burggraf: Wenn ich zurückblicke, so hat mich meine Lehrertätigkeit und meine Schulleiterfunktion im Aufbau und in der Umwandlung überall vor ähnliche Herausforderungen gestellt, obwohl es sich um ganz unterschiedliche Schulen auf dem Land und in der Stadt handelte. Es brauchte immer Kreativität, um ein Schulgebäude und ein Schulgelände, das mit seiner architektonischen Grundstruktur auf eine Halbtagsschule ausgerichtet war, in eine Ganztagsschule als Lern- und Lebensort für vielfältige Aktivitäten im Ganztag umzugestalten.

Schule
Schuldorf Bergstraße in Seeheim-Jungenheim © Britta Hüning

Eine ganztägig arbeitende Schule muss Schritt für Schritt an den Bedürfnissen von Eltern, Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern und auch der Kooperationspartner entlang gestaltet und entwickelt werden. Eine verlängerte Halbtagsschule mit „Suppenküche“, wie wir sagen, reicht nicht. Für uns als Verband ist klar: Je verbindlicher die Teilnahme der Schülerinnen und Schüler ist, desto mehr kann die Ganztagsschule ihr Potenzial entwickeln. Es gilt auch: Ganztagsschule hat ihr Ziel erreicht, wenn die Kinder und Jugendlichen gerne und freiwillig kommen und es gelingt, eine andere Schule zu werden. Ein engagiertes multiprofessionelles Personal ist dazu eine gute Voraussetzung. Der Blick über den Tellerrand und die Kontakte zu anderen Schulen sind ebenfalls besonders wichtig.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!


Zur Person:

Werner Burggraf, Lehrer für Gesellschaftslehre, Mathematik, Arbeitslehre und PC-Unterricht; Dipl. Pädagoge, Berufsausbildung, Konstrukteure Maschinenbau; Referendariat an der Tagesheimschule Frankfurt am Main; Lehrer an der ersten Ganztagsschule in Hessen, der Tagesheimschule „Bornheimer Hang“ und späteren Friedrich-Ebert-Schule. Vorsitzender der Landesplanungsgruppe und der städtischen Planungsgruppe zur Einrichtung einer Ganztagsschule in gebundener Form an der Paul-Hindemith-Schule mit 1.400 Schülern. Schulleiter der Lahntalschule (Profil 2) und der Gesamtschule Gleiberger Land (Profil 1, jetzt Profil 2).
Werner Burggraf ist Mitglied im Bundesvorstand Ganztagsschule e.V., er war 1987 Gründer des Landesverbandes Ganztagsschule in Hessen e.V. Er ist außerdem Berater Selbstständige Schule und (Schul)-Mediator mit den Schwerpunkten Evaluation (Uni Gießen), Geschichte der Ganztagsschule, Schul- und Organisationsentwicklung, Teamentwicklung, Ganztag und Recht.


 

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