„Der Ganztag ist eine große Schulentwicklungsaufgabe“ : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Henry Steinhäuser leitet die Serviceagentur Ganztag am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB). Im Interview berichtet er, welche Unterstützung bayerische Ganztagsschulen brauchen und erhalten.

Online-Redaktion: Herr Steinhäuser, welche Unterstützungsbedarfe nehmen Sie und Ihr Team der Serviceagentur Ganztag besonders wahr?

Henry Steinhäuser: Vor allem wünschen sich die Kolleginnen und Kollegen an den Schulen konkrete Beispiele für den unmittelbaren Einsatz in der Praxis. Im offenen Ganztag sind es besonders die vielen Quereinsteiger, die wissen wollen, wie sie Lernzeiten sinnvoll gestalten und eine Atmosphäre der Konzentration und Motivation schaffen können. Es geht um das Methodische, aber auch um die Beziehungsgestaltung. Dazu haben wir im April in Bayreuth eine Veranstaltung „An einem Strang ziehen: Beziehungen im Ganztag gestalten“ organisiert.

In Bruckmühl haben wir uns Anfang Juli mit dem Thema „Konzentriert und motiviert am Nachmittag“ befasst. Da ging es um die ganze Bandbreite der Gestaltung von Ganztagsangeboten, von Bewegungsförderung bis zu den Denkansätzen für ein wertschätzendes Miteinander oder die Frage, mit welchen methodischen Ansätzen, auch mit Fantasie, man die Schülerinnen und Schüler aus Motivationslöchern herausholt.

Wir sehen diese Bedarfe, haben aber auch den Anspruch, selbst Themen zu setzen und Impulse zu geben, zum Beispiel für die Leseförderung als Aufgabe aller Fächer, Theater und Film und die Begabungsförderung. Bei der Leseförderung arbeiten wir mit den Schulbibliotheken zusammen. In den Münchner Kammerspielen haben wir gemeinsam mit der Landesarbeitsgemeinschaft Theater und Film eine Tagung organisiert, um zu zeigen, wie sich Theater und Film sinnvoll im Ganztag integrieren lassen.

Zwei Frauen halten Finger zusammen
Tagung „Mit Theater und Film Ganztag gestalten“ © ISB

Für solche Veranstaltungen müssen wir richtig die Werbetrommel rühren, weil viele diese scheinbar begrenzten Themen nicht als ihr Arbeitsfeld sehen. Aber das sind dann am Ende immer sehr lohnende Veranstaltungen.

Online-Redaktion: Bayern ist ein riesiges Flächenland. Wie groß ist Ihr Team, um die Veranstaltungen in alle Ecken des Freistaats zu tragen?

Steinhäuser: Wir sind insgesamt zu fünft, also ein kleines Team. Unser Anspruch ist es, dass wir die Veranstaltungen nicht nur in München anbieten. Aber man kann natürlich nicht alle erreichen. In den sieben Regierungsbezirken arbeiten wir mit den jeweiligen Ganztagskoordinatoren zusammen, um unsere Tagungen mit bis zu 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmern vorzubereiten und zu stemmen. Die Ganztagskoordinatoren haben die Kontakte zu einzelnen Schulen, den wir in der Breite gar nicht haben können.

Online-Redaktion: Wie hat sich die Ausweitung des Ganztags auf die Grundschulen bei Ihnen bemerkbar gemacht?

Steinhäuser: Insbesondere die Nachfrage bei den Klassikern Lernzeiten und Hausaufgaben ist noch einmal gewachsen. Wie kann ich Schülerinnen und Schüler motivieren? Wie kann ich Konzentration befördern? Diese Fragen brennen den Lehrkräften ebenso wie den außerschulischen Fachkräften unter den Nägeln.

Online-Redaktion: Ihre Veranstaltung zur Gestaltung der Mittagsfreizeit fand in der Augsburger Westparkschule statt. Wollen Sie neben einer thematischen Auseinandersetzung zugleich die Möglichkeit geben, eine Ganztagsschule kennenzulernen?

Steinhäuser: Genau. Das ist ein Hauptanliegen. Wir wollen ein Thema ganz plastisch werden lassen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und suchen uns in der Regel Schulen aus, die ein besonderes Profil aufweisen, das mit dem thematischen Schwerpunkt der Veranstaltung korrespondiert. An der Westparkschule war das die Organisation des Mittagessens. Die Teilnehmenden können direkt erleben, wie ein Konzept im Alltag funktioniert, und Fragen an die Beteiligten stellen. In Bayreuth haben wir auch einmal in einer Einrichtung der Jugendhilfe – dem Internationalen Jugendkulturzentrum – getagt. Die Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe spielt ja im Ganztag auch eine große Rolle.

5 Personen mit IPad
Tagung „Mit Theater und Film Ganztag gestalten“ © ISB

Online-Redaktion: Nehmen Sie in Bayern die Diskussion über Verbindlichkeit und Flexibilität des Ganztagsangebots wahr?

Steinhäuser: Ja, das ist auch hier ein Thema. In Bayern hängt der Ganztagsschulausbau sehr stark mit dem Thema der Familienförderung zusammen. Die Unterstützung von Eltern bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein wichtiges Thema. Aus unserer Sicht muss es da für Eltern eine Flexibilität zur Nutzung der Angebote für ihre Kinder geben, und die gibt es ja auch im offenen Ganztag. Aus pädagogischer Sicht bietet der gebundene Ganztag große Chancen, um kontinuierlich arbeiten und eine pädagogische Verlässlichkeit gewährleisten zu können. Es ist eine Herausforderung, hier die Interessen abzuwägen und zu entscheiden – und in gewisser Weise eine Quadratur des Kreises.

Online-Redaktion: Das ISB hat einen Qualitätsrahmen für gebundene und offene Ganztagsschulen veröffentlicht. Wie wird damit gearbeitet?

Steinhäuser: Der Qualitätsrahmen ist bereits in den Jahren 2011 und 2012 als Teil eines niedrigschwelligen Qualitätsentwicklungskonzeptes eingeführt worden. Er setzt den inhaltlichen und organisatorischen Rahmen und soll auch als Orientierung für ein pädagogisches Konzept dienen. Dieses Konzept ist verpflichtend für jede Schule, die den Antrag auf Genehmigung eines Ganztagsangebots stellt.

In Bayern gibt es zudem die sogenannten Bilanzberichte, die ein Instrument der internen Evaluation und Reflexion sind und auf dem Qualitätsrahmen aufbauen. Die Berichte müssen der Schulaufsicht regelmäßig – einmal nach neun Monaten und dann alle zwei Jahre – vorgelegt werden und sind dann die Grundlage für die Beratung durch die Schulaufsicht. Es gehört alles zusammen, und die Arbeit mit den Qualitätsrahmen ist dementsprechend obligatorisch für die Schulentwicklungsarbeit.

Online-Redaktion: Welche Rolle spielen die Bildungsregionen für die Ganztagsschulentwicklung?

Steinhäuser: Sie sind zentral vor dem Hintergrund, dass Bildung zunehmend als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird und die Schulen, zumal die Ganztagsschulen, die Herausforderungen nicht allein bewältigen können. Das Konzept der Bayerischen Bildungsregionen sieht die stärkere Vernetzung von Schulen und außerschulischen Bildungsträgern vor. Es gibt unzählige Beispiele, wie sich das vor Ort konkret ausgestaltet.

Impulsvortrag durch Henry Steinhäuser
Impulsvortrag durch Henry Steinhäuser © ISB

Eine Säule im Programm der Bildungsregionen ist zum Beispiel „Bürgergesellschaft stärken“. In Amberg gibt es das Projekt „Eine Sache mehr im Einkaufswagen“ zur Unterstützung der Tafel. Schülerinnen und Schüler haben dort dazu aufgerufen, im Supermarkt eine Ware mehr einzukaufen, um sie dann der Tafel zu schenken. Solche Projekte schärfen den Blick für soziales Miteinander und können auch das Ehrenamt anbahnen. Eine andere Säule heißt „Übergänge organisieren und begleiten“, die den Brückenschlag vom Bildungs- zum Beschäftigungssystem thematisiert. Da lernen Schülerinnen und Schüler Arbeitsabläufe in der Wirtschaft kennen. Für solche Projekte braucht es Partner, die unter diesem Dach zusammenfinden.

Online-Redaktion: Sie sind auch zuständig für die Implementierung des Ganztags in der Lehrerausbildung. Wie ist hier der Stand?

Steinhäuser: Für die erste Phase der Lehrerausbildung, die universitäre Ausbildung, sind wir zwar nicht zuständig. Ich nehme aber wahr, dass die Ganztagsschule auch in den Universitäten zunehmend ein Thema geworden ist und sich die Studierenden mit einem neuen Rollenbild, anderen Kompetenzen und anderen Arbeitszeiten auseinandersetzen. In Kooperation mit Prof. Klaus Zierer vom Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Universität Augsburg werden wir in diesem Jahr ein Studienbuch herausgeben, an dem sich knapp 20 bayerische Hochschullehrerinnen und -lehrer aller Hochschulen und Universitäten mit Beiträgen zum Ganztag beteiligt haben. Auch das zeigt, dass die Ganztagsschule überall ein Thema ist und sich die Hochschulen auf den Weg machen.

Für die zweite Phase, die Referendarausbildung, sind wir gerade dabei, einen Leitfaden mit den neuen Richtlinien aus den kultusministeriellen Bekanntmachungen abzugleichen. Dieser Leitfaden soll dann in den Seminaren zum Einsatz kommen. Er besteht aus fünf schmalen Bänden, die die zentralen Themen abdecken. Verschiedene Praxisbeispiele aus zehn Jahren Ganztagsschulentwicklung in Bayern werden ebenso vorgestellt wie wissenschaftliche Ergebnisse zum Beispiel aus der StEG-Studie.

Wir möchten damit auch unter den Ausbilderinnen und Ausbildern, den Lehrerinnen und Lehrern und den angehenden Lehrkräften einen wissenschaftsbasierten Diskurs anregen. Es ist uns ein wichtiges Anliegen, nicht allein auf der Grundlage der Praxiserfahrungen zu argumentieren, sondern mit Fakten aus der Wissenschaft zu untermauern. Die Implementierung des Leitfadens wird sich in den nächsten Jahren entwickeln müssen, aber letztendlich soll er fester Bestandteil des Vorbereitungsdienstes werden.

Online-Redaktion: Sehen Sie einen Trend in Sachen Ganztag in der näheren Zukunft?

Schüler beim Mauern
Die Pauline-Thoma-Schule war 2002 eine der ersten Ganztagsschulen in Bayern © Britta Hüning

Steinhäuser: Gerade durch den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz im Primarbereich bis 2025 wird sich Ganztagsschule weiter verändern. Die Bayerische Staatsregierung hat sich dazu ja explizit bekannt. Der Bedarf an qualifiziertem Personal wird damit weiter steigen, er ist schon jetzt ein großes Thema. Erste Erfahrungen mit der Qualifizierung von Personal sammeln wir schon mit den Mittagsbetreuungskräften, die zu Koordinatoren des offenen Ganztags an Grundschulen weiterqualifiziert werden. Damit erhalten Mittagsbetreuungskräfte die Perspektive einer Weiterbeschäftigung im offenen Ganztag. Eine weitere Herausforderung werden gemeinsame Konzepte von Jugendhilfe und Schule sein. Da werden wir in den nächsten Jahren noch enger zusammenarbeiten und voneinander lernen.

Online-Redaktion: Was finden Sie persönlich reizvoll an Ihrer Arbeit mit den Ganztagsschulen?

Steinhäuser: Ich finde spannend, dass der Ganztag im Grunde ein Motor der Schulentwicklung ist, sämtliche Querschnittsthemen der Schule umfasst und alle Schularten berührt. Die fach-, professionen- und schulartübergreifende Zusammenarbeit – das ist das eigentlich Reizvolle und Gewinnbringende.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Studiendirektor Henry Steinhäuser, ausgebildeter Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch, ist Leiter des Referats Ganztag / Serviceagentur Ganztag / Bayerische Landeskoordinierungsstelle Musik (BLKM) im Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) in München. Er ist zuständig für die Gesamtkoordination Ganztag, die Implementierung des Ganztags in der 2. Phase der Lehrerbildung und das Projekt LehrplanPLUS (Evaluation).

Das für Ganztagsschulfragen zuständige Referat am ISB hat 2016 die Aufgabenbereiche der Serviceagentur „Ganztägig lernen Bayern“ übernommen, darunter die Planung und Durchführung von Fachtagungen unter dem länderübergreifenden Programmdach „Ideen für mehr! Ganztägig bilden“.

Aktuelle Arbeitsschwerpunkte der regionalen Serviceagentur Ganztag am ISB sind:
•die Qualitätssicherung und -entwicklung an bayerischen Ganztagsschulen,
•die Entwicklung grundlegender Ideen für ein pädagogisches Konzept, insbesondere für die Gestaltung von Lern- und Übungszeiten, der Freizeit im offenen und gebundenen Ganztag
•sowie die Beratung und Begleitung von Schulen und ihren Kooperationspartnern.

Die regionalen Serviceagenturen „Ganztägig lernen“ in den Ländern, die Austausch, Vernetzung und Fortbildung der Ganztagsschulen, unterstützen, wurden 2005/2006 im Rahmen des Programms „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung gegründet. Alle Interviews finden Sie in der Rubrik „Ganztagsschule in den Ländern“.

Über die bildungspolitischen Ziele in den Ländern berichten die Kultusministerinnen und Kultusministern in Interviews: https://www.ganztagsschulen.org/de/2645.php. Aus den Kommunen kommen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie Landrätinnen und Landräte zu Wort.

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