Bilanz: 12 Jahre Ganztagsangebote in Sachsen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Mit einem Fachtag in Dresden bilanzierte das Sächsische Staatsministerium für Kultus die Entwicklung der Ganztagsangebote in Sachsen. Anhand von Praxisbeispielen und Evaluationsergebnissen wurden aktuelle Themen diskutiert.

Blick ins Publikum des Fachtags in Dresden
© Katrin Kloß

Ergebnisse des Ganztags gab es schon zum Auftakt: Die Blechbläsergruppe des Gymnasiums Markneukirchen spielte zur Begrüßung auf, klassische Stücke, aber auch „I Wanna Hold Your Hand“ von den Beatles. Bei der Vorstellung der Band, die aus der Bläserklasse der Schule hervorgegangen ist, sagte einer der Schüler: „Ohne das Ganztagsangebot würde es die Bläserklasse so nicht geben. Und ohne die Bläserklasse hätten einige von uns sicherlich kein Instrument gelernt.“ Die Bläserklasse war vor einigen Jahren in Kooperation mit der Musikschule als Ganztagsangebot eingerichtet worden.

„Das haben Sie toll gemacht“

„Ganztagsschulen sind in Sachsen eine Normalität“, betonte Brunhild Kurth, die Staatsministerin für Kultus, in ihrem Grußwort zum Fachtag „12 Jahre Schule mit Ganztagsangeboten in Sachsen“ am 11. November 2016 und untermauerte dies mit Zahlen: „Von 1.483 allgemeinbildenden Schulen im Freistaat bieten 1.278 Ganztagsangebote an.“ Durch das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ sei vor über einem Jahrzehnt eine „unwahrscheinliche Entwicklung“ initiiert worden. Der Freistaat Sachsen hat seitdem in mehreren Förderrichtlinien zum Ausbau der Ganztagsangebote erhebliche Mittel für Ganztagsangebote eingesetzt. Seit 2015 gibt es eine neue „Sächsische Ganztagsangebotsverordnung“.

Die Ministerin bedankte sich bei den Schulen für den „nachhaltigen Einsatz der Fördermittel“: „Das haben Sie toll gemacht.“ Nun seien Ganztagsangebote der wichtigste Bestandteil des Schulangebots und prägten die Schulen. „Es geht um die Förderung von Begabungen bei starken wie bei schwachen Schülern, um mehr Sport und Bewegung, um mehr Mathematik und Naturwissenschaft und das Fördern von Talenten“, führte die Ministerin aus. „Was mir besonders am Herzen liegt, ist, dass es zukünftig eine noch engere Zusammenarbeit mit Sport- und Musikvereinen geben sollte.“

Goethe-Oberschule Wilthen
© Goethe-Oberschule Wilthen

Nach dem fast flächendeckenden Ausbau der letzten zwölf Jahre – 2005 betrug die Zahl der Schulen mit Ganztagsangeboten gerade mal 152 – rückt nun für die Beteiligten die Frage nach der Qualität der Ganztagsangebote und deren Messbarkeit in den Vordergrund. „Jetzt haben wir die Zeit, qualitativ weiterzuentwickeln“, befand Brunhild Kurth. „Wir brauchen ein gemeinsames Qualitätsverständnis und praktikable Verfahren für die schulinterne Evaluation.“

Scultetus-Oberschule: „Keiner wollte mehr zum Halbtag zurück“

In einem moderierten Gespräch stellte sich anschließend die Scultetus-Oberschule aus Görlitz dem Publikum vor. Schulleiter Frank Dörfer und Ganztagskoordinatorin Andrea Lieder berichteten von ihrer Ganztagsschulentwicklung, die laut Dörfer „schon vor dem IZBB begann“. Aber dank des Programms habe die Schule um- und ausbauen können. „Mein traumhaftes Kollegium hat damals Tag und Nacht Planungen gewälzt, so dass am Ende eine von Lehrerinnen und Lehrern geplante Schule stand.“

Hier lernen heute 300 Schülerinnen und Schüler, und ein Schwerpunkt liegt auf der Integration von Kindern und Jugendlichen mit Handicap. Ein Film über die Schule zeigte, wie Inklusion in der Arbeitsgemeinschaft Modellbau funktioniert. Als wesentliches Element für qualitativ erfolgreiche Ganztagsangebote hat die Scultetus-Oberschule die Rhythmisierung definiert: „Als erstes steht ein veränderter Tagesrhythmus“, sagte Andrea Lieder. „Dazu kann ich nicht nur an der zeitlichen Schraube drehen. Andere Lerneinheiten, wie zum Beispiel 90-Minuten-Blöcke, ziehen auch andere Lernformen und über das ganze Jahr reichende Lernphasen nach sich. Und diese benötigen wiederum andere didaktische und methodische Kenntnisse. Da muss sich das Kollegium auf den Weg machen, und hier ist Kommunikation ganz wichtig.“

Schulleiter Dörfer unterstützt eine offene Sichtweise in seiner Schule: „Wenn wir etwas ändern wollen, dann probieren wir es erstmal aus und testen, wie es ankommt. So haben wir das auch bei der Einführung der Ganztagsangebote gemacht. Nach zwei Jahren habe ich zur Wahl gestellt, ob wir wieder zum Halbtag zurückkehren sollten. Bei der Abstimmung wollte kein einziger mehr weg vom Ganztag.“

Ständige wissenschaftliche Begleitung

Oberschule „Clara Zetkin“ Freiberg
© Britta Hüning

Der vom Team Ganztagsangebote Sachsen organisierte Fachtag in der Sächsischen Aufbaubank räumte nicht nur den Berichten aus der Praxis und dem Austausch der Schulen, sondern auch der Wissenschaft einen großen Raum ein. Für die bundesweite Perspektive hatten die Veranstalter Prof. Ludwig Stecher von der Justus-Liebig-Universität Gießen eingeladen. Als Mitglied im StEG-Konsortium präsentierte der Erziehungswissenschaftler den 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmern die bundesweiten Ergebnisse der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG)“.

Zur Ganztagsschulentwicklung in Sachsen trugen Tobias Lehmann und Stephan Bloße von der Technischen Universität Dresden Ergebnisse der ständigen „Wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation der Förderung der Ganztagsangebote im Freistaat Sachsen“ vor. Seit 2006 wird der Ausbau der Ganztagsangebote an den sächsischen Schulen von der Professur für Sozialpädagogik unter Leitung von Prof. Hans Gängler begleitet. In Abstimmung mit dem Staatsministerium für Kultus werden jährlich verschiedene Themen bearbeitet, zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern, die individuelle Förderung oder die zeitliche Gestaltung des Schultages.

Das Projekt arbeitet mit qualitativen Methoden wie Experteninterviews und Gruppendiskussionen sowie mit quantitativen Befragungen von Schulleitungen, Ganztagskoordinatoren, Eltern, Schülerinnen und Schülern. Auch Hospitationen und Workshops werden durchgeführt.

Hohe Teilnahmequoten und Akzeptanz

2014 arbeiteten 53 Prozent der Schulen im offenen Ganztagsmodell, 33 Prozent im teilgebundenen Ganztag und acht Prozent als gebundene Ganztagsschulen. Dazu kommen Mischformen. „Diese Zahlen sind seit 2004 kaum verändert“, berichtete Tobias Lehmann. „Die ganz aktuellen Zahlen dieses Jahres zeigen eine leichte Verschiebung von der offenen zur teilgebundenen Form.“

Die Teilnahmequoten können sich in Sachsen sehen lassen: In Grundschulen nutzen bis zu 87 Prozent und in Oberschulen bis zu 78 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Ganztagsangebote. In den Förderschulen sind es sogar bis zu 94 Prozent, und in Gymnasien bis zu 68 Prozent. Abhängig vom Jahrgang – vor allem in den höheren Jahrgangsstufen – schwanken die Teilnahmequoten aber auch. „Auffällig ist, dass seit 2010 die Teilnahme in den Gymnasien stark gesunken und in den Förderschulen stark gestiegen ist“, hielt Lehmann fest.

Die Befragungen weisen eine hohe Akzeptanz durch die Lehrerinnen und Lehrer aus. Bis zu 90 Prozent der Lehrkräfte sind mit der Konzeption ihrer Ganztagsangebote zufrieden. Die sächsischen Schulleitungen sehen eine Lehrerbeteiligung in den Ganztagsangeboten auch als eine „unbedingte Voraussetzung“ für einen qualitativ hochwertig gestalteten Ganztag.

Schülerinnen, Schüler und Eltern zeigen ebenfalls eine hohe Zufriedenheit: In der Sekundarstufe I haben 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Aussage zugestimmt, dass „die Ganztagsangebote meine Schulzeit interessanter gemacht“ haben. Sächsische Schulleitungen sind zu 27 Prozent sehr zufrieden und zu 70 Prozent eher zufrieden. „Sie begrüßen besonders die den Schulen überlassene eigenverantwortliche Gestaltung des Ganztags“, so Stephan Bloße.

Vom Ganztag überzeugt

Auch zu den Wirkungen der Ganztagsschule konnten die beiden Forscher etwas sagen: Den subjektiven Wahrnehmungen der Akteure zufolge ist die Attraktivität der Schule durch die Ganztagsangebote gestiegen. Schulklima, Schulkultur und das soziale Miteinander haben sich verbessert. „Es gibt auch Anzeichen für Verbesserungen bei den Leistungen“, so Tobias Lehmann. „60 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler gaben eine Leistungssteigerung an. Bei den Schulleitern sind zehn Prozent voll und 66 Prozent teilweise von einer leistungsfördernden Wirkung des Ganztags überzeugt.“

Team Ganztagsangebote Sachsen mit der Moderatorin Adelheid Fiedler (l.).
Team Ganztagsangebote Sachsen mit der Moderatorin Adelheid Fiedler (l.) © www.ganztagsschulen.org

Schließlich gingen die beiden Wissenschaftler auf das in sächsischen Grundschulen überwiegend praktizierte Schule-Hort-Ganztagsmodell ein. Auf der Sollseite bilanzierten sie: „Wir haben Grundschulen erlebt, bei denen Hort und Schule den Ganztag zusammen organisieren und Qualitätssteigerungen vor Ort sichtbar sind. Aber es gibt auch Orte, an denen Schule und Hort eher gegeneinander arbeiten. Einige Schulen suchen nach wie vor Kooperationspartner. Bei manchen sind die Ganztagsangebote weiterhin nur ein Anhängsel am Nachmittag.“ In der Gesamtsicht sahen sie jedoch das „Glas eher halb voll als halb leer“.

Um die Schulen zu unterstützen und ihnen Orientierung zu geben, entwickelt das Ministerium derzeit mit dem Wissenschaftlerteam ein Qualitätsraster. Anhand von Indikatoren und Kriterien sollen die Schulen demnächst in zwei Stufen – einer Basis- und eine Qualifizierungsstufe – selbst evaluieren können, an welchen Stellen sie die Ganztagsangebote bereits erfolgreich entwickelt haben und was es noch zu tun gibt.

Eigenverantwortliche Qualitätsentwicklung im Austausch

Am Nachmittag ging es dann direkt in den Praxisaustausch. Vier Ausstellerschulen – die Oberschule Brand-Erbisdorf, das Gymnasium Markneukirchen, die Grundschule Arnsdorf und das Förderschulzentrum Oelsnitz – standen für Fragen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die aus ganz Sachsen angereist waren, bereit. In Workshops und Rundtischgesprächen konnte spezielle Ganztagsthemen diskutiert werden. So stellten Schulleiterin Anne-Kathrin Kreis und GTA-Koordinatorin Martina Uhlmann von der Oberschule „Clara Zetkin“ Freiberg, die von 2007 bis 2009 mit IZBB- und Landesmittel um- und ausgebaut wurde, die individuelle Förderung im Ganztag vor.

Die Rhythmisierung an der Oberschule „Carola von Wasa“ in Dresden erläuterte Schulleiter Thomas Lorenz, und um eigenverantwortliche Qualitätsentwicklung, wie sie die „Sächsische Ganztagsangebotsverordnung vorsieht, ging es im Workshop von Jörg
Jäkel von der Oberschule „Am Holländer“ in Döbeln. Ein Thema war auch die interkulturelle Bildung und Erziehung im Schulalltag (Oberschule am Burgteich Zittau).

Im Rundtischgespräch erläuterte unter anderem Wolfgang Markert von der Sächsischen Bildungsagentur, Regionalstelle Chemnitz, welches „Handwerkszeug“ neue Ganztagskoordinatoren benötigen, und für ländliche Schulen berichtete die Grundschule Jocketa, wie es ihr durch die Rhythmisierung des Schultags gelingt, auch Fahrschülern, die an den öffentlichen Nahverkehr gebunden sind, die Teilnahme an den Ganztagsangeboten zu ermöglichen.

Literaturtipps:

Servicestelle Ganztagsangebote Sachsen (Hrsg.): Wie tickt die Uhr im Ganztag? Schulbeispiele aus Sachsen. (PDF, 47kB, nicht barrierefrei) (Broschüre)

Hans Gängler/Thomas Markert (2011): Vision und Alltag der Ganztagsschule. Die Ganztagsschulbewegung als bildungspolitische Kampagne und regionale Praxis. Weinheim, München: Juventa.

Karl Lenz/KatharinaWeinhold/Rüdiger Laskowski (2010): Leistungsfähigkeit schulischer Ganztagsangebote. Wechselseitige Verantwortung für Bildung, Erziehung und Betreuung im Spannungsfeld von Schule, Hort und Familie in Sachsen.

 

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