11. Herbstakademie NRW: Ganz willkommen! : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche standen im Fokus der diesjährigen Herbstakademie "ganz!willkommen" der Serviceagentur "Ganztägig lernen" Nordrhein-Westfalen.

Birgit Schröder
Birgit Schröder © Norbert Smuda / Serviceagentur

Als Thema ihrer 11. Herbstakademie „ganz!willkommen“ wählte die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Nordrhein-Westfalen eines, das Politik und Gesellschaft im vergangenen und in diesem Jahr stark beschäftigt hat und noch länger beschäftigen wird: die Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen. Für die Schulen ist es auch ein ganz praktisches Thema, in das in den letzten Monaten ein unfassbares Engagement der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Erzieherinnen und Erzieher und Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen geflossen ist.

„Es braucht eine bestimmte Haltung, die Vielfalt als Chance begreift“, begrüßte Birgit Schröder, Leiterin der Serviceagentur, die rund 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer am 7. Dezember 2016 im Wissenschaftspark. In den Diskussionen der Teilnehmenden -  im Plenum, in den 14 Foren und in den Pausen - klang bei manchen Schulleitungen, Lehrkräften und Vertretern der Jugendhilfe auch durch, dass sie weniger die pädagogische als die rein praktische Herausforderung fürchten. „Unsere Klassen sind schließlich schon immer heterogen gewesen, bei uns lernen seit jeher Kinder aus aller Herren Länder“, so eine Lehrerin aus Recklinghausen. Ein Schulleiter aus Gelsenkirchen meinte: „Wir würden gerne sofort alle Kinder inklusiv beschulen, aber es geht rein räumlich nicht.“

Tatsächlich, so räumte Christine Schüßler vom Referat „Integration durch Bildung“ des Ministeriums für Schule und Weiterbildung ein, habe das Land bei den Räumen Nachholbedarf. Als Beispiel auf Gelsenkirchen heruntergebrochen, verdeutlichte Christine Schüßler: „Wir bräuchten zwei zusätzliche fünfzügige Gesamtschulen.“ Das Schulministerium sorge für die zusätzlichen Lehrkräfte, betonte Christine Schüßler. Da derzeit viele der in den 1980er Jahren ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern in den Ruhestand gingen, gebe es eine Lücke bei den Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache (DaZ), die man im Sommer 2017 Jahres mit einer großen Fortbildungsmaßnahme schließen wolle. In den Schulpsychologischen Beratungsstellen seien bereits 30 zusätzliche Stellen eingerichtet.

Ganztägige Bildung ist Voraussetzung für gelingende Integration

Den Veranstaltern war es wichtig, neben den Herausforderungen wie Raumnot oder Personalmangel auch die Flexibilität und die guten pädagogischen und organisatorischen Konzepte in den Blick zu nehmen, und dies wie immer sowohl aus Sicht der Schule als auch der Jugendhilfe. Daher waren wie stets Tandems aus Schul- und Jugendhilfevertretern eingeladen worden. Aus wissenschaftlicher Perspektive steuerten dazu Prof. Karim Fereidooni von der Ruhr-Universität Bochum und Prof. Hacı-Halil Uslucan von der Universität Duisburg-Essen in zwei engagierten Vorträgen ihre Expertise bei.

Karim Fereidooni während seines Vortrags
Prof. Karim Fereidooni © Norbert Smuda / Serviceagentur

Fereidooni, Juniorprofessor für Didaktik der Sozialwissenschaftlichen Bildung, befasste sich mit der „Schulischen Bildung geflüchteter Kinder und Jugendlicher“ und betonte, dass „wir Gleichheit und Verschiedenheit gleichzeitig und nicht als Alternative sehen müssen“. Ziel müsse es sein, „wahrzunehmen, wann ich alle Schülerinnen und Schüler gleich und wann ich sie als Besondere behandele. Nur wenn es um den Ausgleich von Benachteiligungen geht, sollten Lehrerinnen und Lehrer Kinder und Jugendliche anders behandeln. „Differenz soll nicht betont werden, wenn sie sich nachteilig auswirkt“, so der Wissenschaftler.

Die Forschung zur Teil- oder Integralbeschulung steht laut Fereidooni noch ganz am Anfang, sodass es keine generelle Empfehlung geben könne, ob schnelle Integration in den Regelunterricht oder das Lernen in Willkommensklassen bessere Lernergebnisse erziele. Die Teilnahme an ganztägiger Bildung ist für den Sozialwissenschaftler eine der Voraussetzungen, dass die Integration dieser Schülergruppe gelinge. „Die Ganztagsschule spielt eine ganz besondere Rolle bei der Transition des Bildungssystems“, so Fereidooni.

Sprachsensible Ganztagsschule

„Was heißt es, in einem neuen Land anzukommen?“, fragte Prof. Hacı-Halil Uslucan in seinem Vortrag. „Viele Schülerinnen und Schüler leben mit einer bi-kulturellen Identität“, führte der Professor für Moderne Türkeistudien und Integrationsforschung aus. „Dieses Zwischen-zwei-Stühlen-sitzen muss nicht per se schlecht sein und zu Zerrissenheit oder Belastung führen. Rollendistanz kann auch zu Ambiguitätstoleranz führen, und die ist ein wichtiger Aspekt der Identitätsentwicklung.“

Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Foyer
Austausch in den Pausen © Norbert Smuda / Serviceagentur

Die Nicht-Festlegung auf eine Identität könne wiederum auch eine angemessene Antwort auf unübersichtliche Zeiten sein. Die Schule habe einen maßgeblichen Einfluss auf die Intelligenz der Schülerinnen und Schüler: „Wenn die Schule fehlt, leidet die Kognition“, so der studierte Psychologe. Er forderte daher den Schulbesuch für alle Kinder, frühe Sprachförderprogramme, Bildungspatenschaften für den Spracherwerb und die Qualifizierung und Sensibilisierung des Personals“.

Margret Rössler, ehemalige Schulleiterin der Dieter-Forte-Gesamtschule in Düsseldorf und Referentin für Deutsch als Zweitsprache und sprachsensiblen Unterricht, stellte in ihrem Forum „Sprachsensible Ganztagsschule“ die Bedeutung des Spracherwerbs ebenfalls in den Vordergrund. Sie nimmt in Schulen häufig einen Mangel an Lehrkräften und ausgebildeten Experten wahr. Deshalb sei die Einbindung von Eltern und Ehrenamtlichen wichtig, wobei auch Projekte wie „Arrive & Join“ http://www.arrive-and-join.de/ in Düsseldorf helfen würden. Dort heißen Eltern neue geflüchtete Familien willkommen und unternehmen gemeinsame musikalische kulturelle, sportliche und gesellschaftliche Aktivitäten, begleitet von den jeweiligen Schulen. Ein weiteres Beispiel ist das Netzwerk „Dialog macht Schule“, bei dem zu Dialog-Moderatoren ausgebildete Studentinnen und Studenten Patenschaften für Schülerinnen und Schüler ab der 7. Klasse übernehmen, die Persönlichkeitsentwicklung und die Integration fördern.

Friedenauer Gemeinschaftsschule: „Der Ganztag stößt vieles an“

Die Herbstakademie warf auch einen Blick über den nordrhein-westfälischen Tellerrand: Aus Berlin waren Juliane Winkler und Axel Junker von der Friedenauer Gemeinschaftsschule Berlin-Schöneberg gekommen, um in einem Forum ihre Schule vorzustellen. „Wir haben Frau Winkler auf einer Tagung erlebt“, erzählte Birgit Schröder, „und waren begeistert, mit wie viel Herzblut sie von ihrer Schule erzählt hat.“ Tatsächlich begann die beim Freien Träger Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V. angestellte Leiterin des Ganztagsbereichs gleich mit der Feststellung: „Wir sind gerne hier, um über unsere Schule zu berichten, die wir so sehr lieben.“

Juliane Winkler während ihres Vortrags
Juliane Winkler © Redaktion

Grundstufenleiter Axel Junker erklärte: „Heterogenität ist die Normalität in Schulen. Von unseren 420 Schülerinnen und Schülern haben zum Beispiel etwa die Hälfte einen Migrationshintergrund. Über die Hälfte sind lernmittelbefreit, und bei 13 Prozent besteht ein attestierter Förderbedarf.“ Die Gelingensfaktoren an der Gemeinschaftsschule sind dem Lehrer zufolge das Jahrgangsübergreifende Lernen (JÜL), feste in den Stundenplan integrierte Teamzeiten der multiprofessionellen Teams, Rhythmisierung und Blockunterricht, demokratische Strukturen, Regeln und Rituale sowie Lehrkräfte und Erzieher als feste Bezugspersonen. „Wenn die Beziehung stimmt, dann klappt das auch mit dem Lernen“, glaubt Junker.

„Die Ganztagsschule stößt vieles an Projekten und Öffnung der Schule an“, berichtete Juliane Winkler, „und ist eine große Ressource, Unterstützung zu erhalten. Es ist eine Goldgrube, durch Angebote am Nachmittag neue Leute kennenzulernen. Alle Schülerinnen und Schüler mit Fluchthintergrund kommen bei uns in die offene Ganztagsschule, wenn sie es wollen. Zurzeit sind 98 Prozent im Ganztag.“

Die Erzieherinnen arbeiten eng mit den Lehrkräften zusammen. Zusammen schaue man, was am Nachmittag anders sei, wenn da etwas gelinge, was im Vormittagsunterricht im Lernen mit der Schülerin und dem Schüler nicht so gut funktioniere. Letztlich laute das gemeinsame Ziel, so Axel Junker, dass „kein Kind unsere Schule verlassen soll, ohne zu wissen, wofür es brennt“.

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