Soziale Beziehungen in Ganztagsschulen : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Soziale Beziehungen – der Schülerinnen und Schüler und des Personals jeweils untereinander und zwischen beiden Gruppen – stehen in Ganztagsschulen vor neuen Herausforderungen. Prof. Natalie Fischer von der Universität Kassel im Interview.

Natalie Fischer
Prof. Natalie Fischer bei der KMK-Tagung „Ganztag gesundheitsförderlich gestalten“. © Redaktion

Online-Redaktion: Frau Prof. Fischer, welche Forschung läuft an Ihrer Universität Kassel derzeit zum Thema Ganztagsschule?

Natalie Fischer: In meinem Fachgebiet „Soziale Beziehungen in der Schule“ werden diese Beziehungen auch mit Blick auf die Ganztagsschule betrachtet. Wie lassen sich Potenziale der sozialen Beziehungen in der Ganztagsschule nutzen, und wie kann man sie fördern? Im Rahmen der gemeinsam mit dem DIPF in Frankfurt durchgeführten StEG-Tandem-Studie schauen wir uns da insbesondere das Peer Learning an: In fünf Ganztagsschulen der Sekundarstufe I unterstützen ältere Schülerinnen und Schüler aus den Klassen 8 bis 10 die Fünftklässler in den Lernzeiten. Gemeinsam mit den Ganztagsschulen haben wir dafür sogenannte Peer-Mentoring-Konzepte entwickelt, eingeführt und evaluiert.

Diese Studie orientiert sich an den Bedürfnissen der Praxis. Wir sind als Forscherinnen also im Schuljahr 2017/2018 nicht mit einem vorgefertigten Programm in die Schulen gegangen, das wir dort einmalig durchführen, sondern uns ist es sehr wichtig, dass in den Schulen langfristige Veränderungen angestoßen werden. Jede der Schulen hat das Konzept an ihre spezifischen Bedürfnisse angepasst und alle führen das Peer-Mentoring-Konzept weiter und weiten es teilweise sogar auf andere Jahrgangsstufen aus. Die Ergebnisse werden in Kürze in einer Broschüre und einem Buch erscheinen.

Online-Redaktion: Was verrät die StEG-Tandem-Studie über soziale Beziehungen?

Fischer: Die Beziehungen spielen eine erhebliche Rolle. Wir konnten besonders dann eine Wirksamkeit dieses Angebots feststellen, wenn die jüngeren Schülerinnen und Schüler sich in der Beziehung zu den älteren wohlfühlen und die Lernunterstützung als konstruktiv wahrnehmen. Die älteren Schülerinnen und Schüler müssen darauf vorbereitet sein, wie sie wertschätzend mit den Fünftklässlern umgehen. Und sie müssen ihnen gleichzeitig konstruktive Rückmeldung im Lernprozess geben. Das ist eine hohe Herausforderung.

Broschüre
© StEG

Online-Redaktion: Und die sozialen Beziehungen im Kollegium?

Fischer: Für die Kooperation verschiedener Berufsgruppen in Ganztagsschulen braucht es auch bestimmte Kooperationsfähigkeiten, Voraussetzungen sind zum Beispiel Wertschätzung und Anerkennung in der Kooperation. In der Qualitätsoffensive Lehrerbildung habe ich gemeinsam mit Hans Peter Kuhn, der hier an der Universität Kassel die Professur für empirische Bildungsforschung innehat, das Projekt „Multiprofessionelle Teams in Ganztagsschulen“ (MuTiG) entwickelt. Studierende der Sozialen Arbeit und des Lehramts besuchen bei uns gemeinsame Lehrveranstaltungen, so lernen sie wechselseitig ihre Expertise, ihr Bildungsverständnis und ihre Erziehungsziele kennen: Was sind die spezifischen Fähigkeiten und Kenntnisse, die jede Berufsgruppe mitbringt? Wie vielfältig sind die Rollen der jeweils anderen Profession? Und wo liegen ihre jeweiligen Zuständigkeitsbereiche?

Online-Redaktion: Gibt es Besonderheiten für das Personal in Ganztagsschulen?

Fischer: In der Ganztagsschule findet eine Entdifferenzierung der Zuständigkeitsbereiche statt, das heißt, vieles vermischt sich. Es gibt nicht die klare Trennung: Wissen vermitteln die Lehrer, Experten für Erziehung und soziales Lernen sind außerschulische Fachkräfte. Da ist es umso wichtiger, die Expertise des Anderen zu kennen und anzuerkennen. Was kann beispielsweise ein Sozialarbeiter für den Unterricht beitragen?

Viele Qualitätsmerkmale der Ganztagsschule hängen davon ab, wie gut kooperiert wird. Forschungsergebnisse aus StEG haben gezeigt, dass Kooperation zu Kollegialität führen kann, was wiederum eine Entlastung im Arbeitsalltag zur Folge hat. Ein wichtiges Thema für alle an Schule Beteiligte ist das Vertrauen. In der internationalen Forschung dazu sieht man, dass sich alle Ebenen untereinander beeinflussen. Wenn beim Personal untereinander kein Vertrauen herrscht, ist es auch schwieriger, Vertrauensbeziehungen in pädagogischen Beziehungen aufzubauen. Und das wirkt sich auf das ganze Schulklima aus. Die Grundlage für Vertrauen unter verschiedenen Berufsgruppen ist wiederum das gegenseitige Kennenlernen. Und daran arbeiten wir mit den Studierenden: Sie sollen den Nutzen von Kooperation erkennen. Das scheint auch zu gelingen, wie die ersten Evaluationsergebnisse zeigen.

Online-Redaktion: Im Land Hessen sind Sie auch in der Evaluation des „Pakts für den Nachmittag“ engagiert.

Gruppe von Schülerinnen und Schülern
© Britta Hüning

Fischer: Ja, in einer großen Studie haben wir pädagogisches Personal und Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Schulleitungen, Angebotsträger, Schulträger, Schulämter und Eltern befragt. All diese Akteure kooperieren in dem im Schuljahr 2015/2016 in Hessen eingeführten Konzept für Ganztagsgrundschule. Die Evaluation des „Pakts für den Nachmittag“ erfolgte im Auftrag des Hessischen Kultusministeriums, das die Erfahrungen aus Sicht aller Beteiligten erheben möchte, um Optimierungen vornehmen zu können. Hier gibt es viele interessante Ergebnisse, über die wir noch berichten werden. Das Potenzial der Ganztagsschule für pädagogische Beziehungen und individuelle Förderung lässt sich bereits erkennen: Lehrerinnen und Lehrer, die die Kinder auch in Ganztagsangeboten erleben, geben an, dass ihnen das wertvolle Erfahrungen und Hinweise zu einzelnen Lernenden gibt, die im Unterricht genutzt werden können.

Online-Redaktion: Apropos Unterricht. Wie sieht es mit der Unterrichtsforschung aus?

Fischer: Wie sich Unterricht allgemein in der Ganztagsschule verändert, ist in einem früheren Forschungsprojekt „Lernkultur und Unterrichtsentwicklung in Ganztagsschulen“ untersucht worden. StEG hat das nur ansatzweise betrachtet. Grob gesagt liefen die Ergebnisse darauf hinaus, dass sich der Unterricht noch wenig verändert hat. Dazu muss man sich aber wieder die Organisation des Ganztags vor Augen halten: In offenen Ganztagsschulen, in denen nur eine Minderheit der Schülerinnen und Schüler außerunterrichtliche Angebote wahrnimmt, kann man das Mehr an Zeit nicht für eine Veränderung des Unterrichts nutzen.

Eine Veränderung ist allerdings, dass viele Ganztagsschulen inzwischen Hausaufgaben oder Förderstunden als Lernzeiten in den Unterricht integrieren. Die effektive Umsetzung von Lernzeiten muss weiter untersucht werden, vor allem unter der Frage: Wie lassen sich kooperative Methoden und Individualisierung umsetzen? Immer noch wenig erforscht ist auch die Verbindung von Unterricht und außerunterrichtlichen Angeboten. Wie lassen sich Lerninhalte erfolgreich auf andere Weise wieder aufgreifen? Und wie lassen sich die unterschiedlichen Professionen effektiv einbeziehen?

Lehrerinnen unterhalten sich im Lehrerzimmer
© Britta Hüning

Online-Redaktion: Noch einmal zur Lehrerausbildung: Werden künftige Lehrerinnen und Lehrer auf die Ganztagsschule vorbereitet?

Fischer: Wenn man bedenkt, dass aktuell rund 70 Prozent der Schulen Ganztagsschulen sind, ist das Thema sehr unterrepräsentiert. Es ist nicht curricular verankert, und in den meisten Modulkatalogen findet sich das Wort nicht einmal. Es ist noch nicht in der Bevölkerung und auch noch nicht bei den Studierenden angekommen, wie viele Ganztagsschulen es inzwischen gibt. Allerdings gibt es zunehmend Projekte wie MuTiG in der Lehrerausbildung, in denen gemeinsame Erfahrungen mit verschiedenen pädagogischen Studiengängen (insbesondere mit der Sozialen Arbeit und der Sonderpädagogik) geschaffen werden. Im Rahmen von MuTiG wird dazu gerade ein Netzwerk mit verschiedenen Hochschulen, unter anderem mit den Universitäten in Gießen und Bielefeld und der Fachhochschule Köln, aufgebaut.

Online-Redaktion: Anfang November werden Sie dabei sein, wenn StEG auf einer Fachtagung seine Forschungen bilanziert. Wenn Sie auf die 15 Jahre Forschung zurückblicken – was sind für Sie herausragende Erkenntnisse?

Fischer: Was uns vor 15 Jahren nicht so bewusst war, ist die Heterogenität der Ganztagsschullandschaft. Jede Schule setzt den Ganztag anders um, was weniger mit der Organisationsform zusammenhängt. Die Vorgaben der Länder sind unterschiedlich, vor allem aber unterscheidet sich, wie die einzelne Schule den Ganztag versteht. So kann man auch heute noch nicht verallgemeinern, dass ein Kind per se besser gefördert wird und bessere Leistungen erbringt, weil es eine Schule besucht, die Ganztagsschule heißt. Sondern es kommt sehr darauf an, wie die einzelne Ganztagsschule die Konzepte umsetzt.

SChüerlinnen und Schüler reden auf dem Gang
© Britta Hüning

Ein wichtiges Ergebnis ist aus meiner Sicht, dass sich bei regelmäßiger Teilnahme am Ganztag das häusliche Klima zwischen Eltern und Kindern verbessert, unter anderem wegen der wegfallenden Hausaufgaben. Auch dass Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien, darunter auch solche mit einem Migrationshintergrund, eine unterstützende Wirkung erleben, hat StEG gezeigt. Wichtig für die Kooperationspartner von Ganztagsschulen wie Vereine oder Musikschulen ist, dass sie durch die Ganztagsschule nicht verlieren, sondern, wenn sie mit ihren Angeboten in die Ganztagsschulen gehen, sogar noch Kinder und Jugendliche gewinnen. Wir nennen das Anwerbeeffekte. Viele Forschungen zu Kooperationen haben das inzwischen gezeigt.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Prof. Natalie Fischer hat seit 2014 die Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Soziale Beziehungen in der Schule“ an der Universität Kassel inne. Nach dem Studium der Psychologie in Frankfurt am Main wurde sie 2006 an der Universität Koblenz-Landau mit dem Thema der Dissertationsschrift: „Motivationsförderung in der Schule – Konzeption und Evaluation einer Fortbildungsmaßnahme für Mathematiklehrkräfte“ promoviert. Von 2006 bis 2014 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt am Main und Projektkoordinatorin der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG)“.

Veröffentlichungen u. a.:

Fischer, N. (2018). Ganztagsschule als Bildungsraum (für alle?!) – Erkenntnisse aus 10 Jahren „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG). In E. Glaser, H.-C. Koller, W. Thole & S. Krumme (Hrsg.), Räume für Bildung – Räume der Bildung. Beiträge zum 25. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (S. 214-225). Opladen u.a.: Barbara Budrich.

Fischer, N. & P. Richey (2018). Förderung von Vertrauen und Wertschätzung in pädagogischen Beziehungen - Potenziale der Ganztagsschule. In S. Maschke, G. Schulz-Gade & L. Stecher (Hrsg.), Jahrbuch Ganztagsschule. Lehren und Lernen in der Ganztagsschule. Grundlagen - Ziele - Perspektiven (S. 59-66). Frankfurt am Main: Debus Pädagogik.

Fischer, N., H.G. Holtappels, E. Klieme, T. Rauschenbach, L. Stecher & I. Züchner (Hg.), Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Längsschnittliche Befunde der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG). Weinheim: Juventa.

 

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