"Mit StEG betreten wir Neuland" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Wie verändern Ganztagsangebote die Organisation und das Klima von Schulen? Verbessern sie die Lernleistungen von Schülerinnen und Schülern? Welche Rolle spielen außerschulische Partner, das lokale Umfeld und die Eltern? Noch sind diese Fragen ein weithin unbearbeitetes wissenschaftliches Feld.

Prof. Dr. Klieme und Prof. Dr. Holtappels
Prof. Dr. Eckhard Klieme und Prof. Dr. Heinz Günter Holtappels stellen die StEG-Studie auf einer Pressekonferenz am 19. März 2007 in Berlin vor.

Online-Redaktion: Professor Klieme, wie ist der derzeitige wissenschaftliche Stand in der Frage, welche Auswirkungen ganztägige Angebote auf das Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern haben?

Klieme: Es gibt bisher keine empirischen Erkenntnisse über die Wirksamkeit von ganztägigen Angeboten. Es gibt einige neuere Begleitstudien, die qualitativ die Erfahrungen mit der Veränderung des Rhythmus und der Einführung zusätzlicher Angebote an Schulen aufarbeiten. Diese sind allerdings noch nicht publiziert. Darüber hinaus sind ältere Studien vorhanden, die bis in die 1970er Jahre zurückreichen und aufzeigen, dass ganztägige Angebote Chancen für soziales Lernen bieten und Schulen verändern. Aber viele andere Fragen - insbesondere, ob ganztägige Angebote Auswirkungen auf den Leistungsbereich haben - sind nach wie vor unbeantwortet. Dies haben wir in einer Literaturrecherche vor zwei Jahren noch einmal festgehalten. Deshalb ist es so wichtig, dass jetzt erstmals in einer systematischen Weise eine Evaluation von ganztägigen Angeboten zustande kommt.

Online-Redaktion: Sie betreten mit Ihrer Evaluation also Neuland?

Klieme: Wir betreten tatsächlich insofern Neuland, als wir erstmals schul- und länderübergreifend herauszufinden versuchen, was die Erfolgsbedingungen für die Umwandlung der Schulkultur in Richtung Ganztagsschule sind und welche Konsequenzen diese Umwandlung zum Beispiel für das Lernen, aber auch für die Schulorganisation insgesamt und für die Einbettung in das soziale Umfeld hat.

Online-Redaktion: Wer ist der Auftraggeber Ihrer Evaluation?

Klieme: Der Auftraggeber im engeren Sinne ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung, weil unsere Studie mit dem Bundesinvestitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" verknüpft ist. Im Rahmen des IZBB werden Mittel sowohl des Bundesministeriums als auch der Europäischen Union bereitgestellt, um diese begleitende Forschung zu finanzieren.

Online-Redaktion: Welchen Hintergrund hat die Studie?

Klieme: Sie hat den Auftrag, die Länder darin zu unterstützen, ihre Reformmaßnahmen zu begleiten und Erkenntnisse über den Erfolg dieser Reformen zu gewinnen. Wir untersuchen Fragestellungen, die in fast allen Ländern virulent sind und arbeiten dabei mit den Ministerien eng zusammen, die uns ihre Fragestellungen übermittelt haben.

Online-Redaktion: Haben die Länder Wünsche geäußert, was evaluiert werden soll?

Klieme: Natürlich. Es war uns sogar ein besonderes Anliegen, das Design und die Fragestellung der Studie auf die Zielsetzungen der Länder abzustimmen. An vorderster Stelle steht sicherlich die Frage, wie die Ganztagsangebote denn überhaupt zustande kommen. Welche Erfahrungen machen Schulen bei dem Start in das neue Angebot? Welche Rolle spielen dabei Schulleitungen, das Kollegium und die außerschulischen Partner? Inwieweit können Schülerinnen, Schüler und Eltern partizipieren? Wir möchten all dies gerne dokumentieren und herausfinden - auch als Unterstützung für Schulen, die sich noch auf den Weg machen werden -, welche Hürden zu überwinden sind und wie man diesen Prozess möglichst gut bewältigen kann. Der Aufbau der Ganztagsangebote ist der zentrale Punkt.

Online-Redaktion: Welche weiteren Schwerpunkte untersuchen Sie?

Klieme: Selbstverständlich auch die Auswirkungen der Ganztagsangebote auf die Schülerinnen und Schüler, wobei in den meisten Ländern der Aspekt des sozialen Lernens im Vordergrund steht. Ganztagsschulen werden hier als Chance gesehen, beispielsweise gerade auch Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund stärker sozial zu integrieren. Wir schenken deshalb auch den Fragen des sozialen Lernens und des sozialen Klimas an den Schulen besondere Beachtung.

Ein zweiter Schwerpunkt ist die individuelle Förderung. Es besteht ja die Hoffnung, dass Ganztagsschulen sowohl schwächere als auch leistungsstarke Schülerinnen und Schüler je nach ihren Bedürfnissen stärker und differenzierter fördern. Wir werden feststellen, was die Schulen in diese Richtung unternehmen und ob dies über die Jahre hinweg Erfolg hat.

Daneben spielt ein dritter Bereich eine große Rolle: Die Kooperation der Schule mit Partnern im lokalen und regionalen Umfeld. Dies ist eine wichtige Voraussetzung dafür, Ganztagsschulen erfolgreich zu gestalten. Man muss beispielsweise die Jugendhilfe, Vereine und andere Anbieter für sportliche und musisch-kulturelle Aktivitäten einbinden. Sicherlich hat eine Verlagerung solcher Aktivitäten in die Schulen auch Folgen für andere Institutionen, die untersucht und beachtet werden müssen.

Online-Redaktion: Hat die Studie bereits begonnen?

Klieme: Ja, wir haben mit Hilfe der jeweiligen Ministerien insgesamt 450 Schulen in 14 Ländern angesprochen. Die Schulen haben sich schon überwiegend bereit erklärt teilzunehmen. In einigen Ländern läuft der Prozess der Akquirierung der Stichproben noch, in manchen ist er schon abgeschlossen. Wir sind gerade dabei, die Befragungsinstrumente fertig zu stellen, so dass wir im nächsten Schritt die Genehmigung der Ministerien und der Datenschützer einholen können, um diese Instrumente einsetzen zu können. Ab Ende April kann dann bis Juni die erste Erhebung in den Schulen stattfinden.

Online-Redaktion: Wie führen Sie die Evaluation durch?

Klieme: Das Konsortium, das die "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen" (StEG) durchführt, konzentriert sich im Wesentlichen auf schriftliche Befragungen. Nur so können wir eine große Zahl von Schulen einbeziehen. Wir arbeiten dabei überwiegend mit Fragen, die sich in der Schulforschung bewährt haben. Wir übernehmen diese bewährten Instrumente besonders in der ersten Welle, um die Ausgangssituation der Schulen möglichst detailliert festzuhalten. Dann werden wir mit den Schulen und den Ministerien gemeinsam überlegen, welche weiteren Aspekte wir in der zweiten und dritten Erhebungswelle in den nächsten Jahren in den Blick nehmen müssen.

Das zentrale Instrument sind also die Fragebögen - und zwar getrennt für Schulleitungen, Lehrkräfte, das sonstige pädagogische Personal, die Schülerinnen und Schüler und schließlich für die Eltern. Andere Experten, mit denen wir zusammenarbeiten und die ergänzende Studien durchführen, werden darüber hinaus mit mündlichen Befragungen, Beobachtungen und anderen Methoden arbeiten.

Online-Redaktion: Das DIPF in Frankfurt am Main zeichnet ja nicht alleine für die Studie verantwortlich. Auch das Deutsche Jugendinstitut in München und das Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund sind beteiligt. Wie sind gerade diese drei Partner zusammengekommen?

Klieme: Eine solche weitreichende Studie erfordert unterschiedliche wissenschaftliche Kompetenzen. Das DIPF bringt seine Erfahrung als Zentrum der empirischen Bildungsforschung ein. Es besitzt inzwischen eine langjährige Erfahrung in groß angelegten Schulstudien, die sich mit Schulleistungen sowie Schul- und Unterrichtsqualität befassen. Wir werden uns auf Fragen der inneren Schulqualität, der Lernkultur und der Kompetenzentwicklung bei Schülerinnen und Schüler konzentrieren.

Das Institut für Schulentwicklungsforschung hat langjährige Erfahrung in der Begleitung von Schulen bei ihrer inneren Schulentwicklung und auch schon eine Reihe von Studien zum Thema "Ganztägige Angebote" durchgeführt. Das IFS kann also insbesondere Fragestellungen einbringen, die auf die Organisation der Ganztagsangebote und den Zusammenhang zwischen ganztägigem Lernen, Schulkultur und Schulorganisation im Allgemeinen abzielen.

Eine dritte, für die Ganztagsschulen wesentliche Komponente ist die Beziehung zwischen der Schule einerseits und dem sozialen Umfeld, dem Elternhaus und der Jugendhilfe andererseits. Hierfür wiederum bringt das Deutsche Jugendinstitut seine Erfahrungen ein, das ebenfalls auf einer sehr breiten empirischen Basis mit großen Studien das Zusammenwirken von Schule, Jugend und Elternhaus untersucht hat und diesen Punkt auch in unserer neuen Studie bearbeiten wird.

Wir brauchen also die inhaltlichen Kompetenzen der drei Institute, ihre Erfahrungen im Management dieser großen Untersuchungen, in der Aufbereitung und Auswertung von Datensätzen. Für sich allein könnte keines dieser Institute eine solch große Studie durchführen.

Online-Redaktion: Wie viele Mitarbeiter sind denn mit der Studie beschäftigt?

Klieme: Wir haben einen Kreis von etwa einem Dutzend Wissenschaftlern - teils in den Instituten angestellte, teils speziell mit dem Projekt StEG betraute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an der Konzeption und der Durchführung arbeiten. Das ist schon ein größeres Team, das diese Studie aktiv gestaltet.

Online-Redaktion: Wie ist der Zeitrahmen gesteckt?

Klieme: Die Erhebungen laufen bis Ende des Schuljahres 2004/2005. Dann werden wir natürlich einige Zeit brauchen, bis wir die Daten von 450 Schulen mit jeweils mehreren Klassen, dazugehörigen Schüler-, Lehrer- und Elternbefragungen verarbeitet und statistisch analysiert haben. Ende 2005 oder Anfang 2006 können wir den Ländern wahrscheinlich erste Befunde zur Verfügung stellen. Auch die beteiligten Schulen sollen jeweils eine Rückmeldung über ihre Ergebnisse erhalten. Dies ist dann aber nur die erste Welle der Erhebungen, die den Ausgangszustand beschreibt. Wichtig ist, dass wir dann jeweils im Abstand von eineinhalb Jahren noch zweimal in die Schulen gehen und dort dieselben Schüler und Lehrer nochmals befragen werden, um so die Entwicklung der Angebote, aber auch deren Nutzung und Wirkungen erfassen zu können.

Online-Redaktion: Befinden wir uns nach Ihrem Empfinden gerade in einer spannenden Phase der Bildungspolitik?

Klieme: In jedem Fall. Die Bildungspolitik, die Öffentlichkeit und weite Teile der Praxis sind nicht zuletzt durch die Ergebnisse der großen Schulleistungsstudien wachgerüttelt - aber wir sind nicht erstarrt. Das ist ganz wichtig, auch wenn manche Kritiker das manchmal nicht so sehen. Das System ist nicht im Schockzustand erstarrt, sondern es sind eine ganze Reihe von kreativen Entwicklungen auf den Weg gebracht worden. Das betrifft neue Ideen für individuelle Förderung, das Qualitätssicherungssystem und als wesentliche Komponente die Ausweitung von ganztägigen Angeboten. Unsere Studie kann einen kleinen Beitrag leisten, diese neuen und kreativen Entwicklungen zu begleiten und auszuwerten, so dass sie auch wirklich dauerhaft Nutzen bringen können. Ich finde es sehr ermutigend, was derzeit an Bewegung in unserem Schulsystem da ist. Es lohnt sich, das sehr genau anzuschauen und daraus zu lernen - und das ist der Auftrag von Forschung.

Eckard Klieme, geboren 1954, seit Oktober 2001 Professor für Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität und Leiter der Arbeitseinheit "Bildungsqualität und Evaluation" am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bonn (1978-81), Diplommathematiker (1978), Diplompsychologe (1981), 1. Staatsexamen für Lehramt der Sek. II. (1982), Dr. phil. (1988).

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