Ganztagsschule in der Ausbildung : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Prof. Dr. Marianne Schüpbach forscht seit 2006 zur Wirksamkeit ganztägiger Bildung. Die gemeinsame Ausbildung von Lehrkräften und außerschulischen Fachkräften für den Ganztag ist ihr Anliegen – wie in Schweden.

Prof. Marianne Schüpbach
Prof. Marianne Schüpbach © FU Berlin

Online-Redaktion: Frau Prof. Schüpbach, ist das Thema Ganztag in der Lehrerausbildung ausreichend berücksichtigt?

Marianne Schüpbach: Besehe ich mir den Studiengang für Lehramt an Grundschulen an der Universität Bamberg, an der ich bis vor einem Jahr tätig gewesen bin, war der Ganztag in vielen Fächern, insbesondere in den Fachdidaktiken, nicht wirklich ein Thema. Mir ist es seit Jahren ein großes Anliegen, dass die zukünftigen Grundschullehrerinnen und -lehrer mit dem Ganztag konfrontiert sind und einen Eindruck erhalten, worum es in der Ganztagsschule geht. Das implementierte ich bereits an der Universität Bamberg als auch nun hier im Bachelor- und Masterstudiengang Grundschulpädagogik an der FU Berlin. Da halte ich besonders das Thema multiprofessionelle Kooperation für wichtig.

Die Kultusministerkonferenz hat die Verknüpfung von Unterricht und Ganztagsangeboten, also von Vor- und Nachmittag, als eine der wesentlichen Grundlagen der Ganztagsschule formuliert. Aber in der Praxis ist das eine große Herausforderung, und die Ganztagsschulforschung in Deutschland hat in dem Bereich einen erheblichen Nachholbedarf festgestellt.

Online-Redaktion: Wie sieht es mit der Ausbildung der pädagogischen Fachkräfte aus?

Schüpbach: Das Spektrum des weiteren pädagogisch tätigen Personals in den Ganztagsschulen ist sehr breit. Es reicht von Erzieherinnen und Erziehern bis zu nicht pädagogisch ausgebildeten Personen. Für die Zukunft erhoffe ich mir, dass wir den Ausbildungsstand dieses Personals erhöhen werden.

Broschuere Forschungsbilanz
© Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)

Online-Redaktion: In Ihrem Studiengang an der FU Berlin bieten Sie ein Seminar in Kooperation mit der Akademie für Ganztagsschulpädagogik in Bayern an. Wie ist es dazu gekommen?

Schüpbach: In Bamberg hatte ich nach einem interessanten Partner in der Region gesucht und bin auf die Akademie gestoßen. Die Akademie für Ganztagsschulpädagogik ist ein kongenialer Partner, weil sie genau die Klientel der pädagogischen Fachkräfte, die im außerunterrichtlichen Angebot an einer Ganztagsschule arbeiten, im Fokus hat. Wir haben das Kooperationsseminar schon in Bamberg gestartet. Dann habe ich es auch hier an der FU Berlin etabliert, und es wird auch im kommenden Semester weitergehen. In diesen Tagen starten wir zudem ein gemeinsames Forschungsprojekt.

Online-Redaktion: Was bringt das Kooperationsseminar inhaltlich?

Schüpbach: Die grundlegende Idee des Seminars ist, dass pädagogische Fachkräfte und Lehramtsstudierende zusammenkommen, um sich in Gesprächen auf die multiprofessionelle Kooperation und die Herausforderungen des Arbeitsalltags in einer Ganztagsschule einzustimmen. Das Besondere ist hierbei, dass die pädagogischen Fachkräfte anders als die Studierenden bereits in der Praxis arbeiten. Im Rahmen des Seminars im kommenden Semester werden die Lehramtsstudierenden an einer Ganztagsschule hospitieren.

Nachfolgend ist ein gemeinsames Seminar zur multiprofessionellen Kooperation mit den an dieser Schule pädagogisch tätigen Personen und den Lehramtsstudierenden geplant. Beide kennen dann das Angebot der gleichen Schule, einmal aus Innen-, einmal aus Außensicht. Es wird einen Input meiner Studierenden aus wissenschaftlicher Perspektive geben und dann darüber diskutiert werden. Am Schluss sollen gemeinsam Wünsche formuliert werden, wie diese pädagogische Kooperation zukünftig noch besser gestaltet werden könnte.

Online-Redaktion: Wie kann man so ein Ausbildungskonzept in die Breite der Lehrerausbildung tragen?

Schüpbach: Damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich bin nicht die einzige, die sich bemüht, den Ganztag schon in der Lehrerausbildung einzubinden. Es gibt auch an einzelnen anderen Universitäten und Hochschulen solche Kooperationen. Richtig ist, dass das nicht flächendeckend geschieht und dass es momentan noch von der Initiative von Einzelnen abhängt. Man kennt traditionellerweise seinen eigenen Hochschulbetrieb, weiß aber zu wenig von Ausbildungsstätten, Hochschulen und Akademien, die pädagogische Fachkräfte ausbilden. Erschwerend kommt hinzu, dass zum Beispiel eine Institution wie die Akademie für Ganztagsschulpädagogik nicht einer Universität gleichzustellen ist und strukturell nicht per se als Partner wahrgenommen wird.

Pädagoginnen
© Britta Hüning

Daher möchte ich hier in Berlin mögliche Kooperationspartner einbinden. Aber da wird es schon schwierig, weil die Strukturen in den Institutionen unterschiedlich sind. Ich denke aber, dass es möglich ist, mit kleinen Schritten solche institutionellen Barrieren zu überwinden. Um solche Kooperationen flächendeckend zu etablieren, wäre es sinnvoll, wie in Schweden die Ausbildung von Lehrkräften und weiteren pädagogischen Fachkräften an einer Institution zu bündeln.

Online-Redaktion: Wie sieht die Forschungskooperation mit der Akademie für Ganztagsschulpädagogik aus?

Schüpbach: Es handelt sich um eine Interventionsstudie über zehn Wochen an einer offenen Ganztagsgrundschule im Schulbezirk Forchheim. Wir wollen eine Arbeitsgemeinschaft entwickeln, die gezielt die sozialen und emotionalen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern fördert, und deren Wirkungen untersuchen. Aus verschiedenen sogenannten Metaanalysen, also Ergebnissen vieler Einzelstudien, wissen wir, welche Elemente zielführend sind, die ein wirksames Angebot umfassen: klare Zielsetzungen, ein klarer Fokus, die aktive Teilhabe der Schülerinnen und Schüler,  eine Reflexion und ein aufeinander aufbauendes Angebot über einen längeren Zeitraum. Mit der Einführung einer Arbeitsgemeinschaft, die diese Kriterien erfüllt, werden wir dann die sozialen Kompetenzen, die Selbstwirksamkeit und das Selbstwertgefühl der Schülerinnen und Schüler untersuchen.

Online-Redaktion: Sie haben Schweden angesprochen. Was sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich zu den deutschen Ganztagsschulen?

Schüpbach: In Schweden finden die Angebote am Nachmittag in "fritidshem" , auf Englisch school-age educare centers, statt. School Educare Center. Wie in Deutschland ist man bestrebt, eine pädagogische Einheit zu gestalten. Seit 2011 gibt es daher ein Curriculum, das die Lernziele für den Unterricht und die erweiterten pädagogischen Lernziele für den Nachmittag darstellt. Die pädagogischen Fachkräfte, die hauptsächlich im außerunterrichtlichen Teil tätig sind und die alle ein dreijähriges Bachelor-Universitätsstudium absolviert haben, heißen dort auf Englisch teacher, also Lehrer. Für die Grundschule gibt es die primary school teacher und die school-age educare teacher.

Das bildet ab, dass alle ein Universitätsstudium mit unterschiedlichen Vertiefungen abgeschlossen haben und gleichwertig sind. Es gibt eine Vertiefungsrichtung für die Vorschule und für die drei Grundschuljahre, eine weitere für die Grundschuljahre vier bis sechs und schließlich eine Spezialisierung für eine Arbeit im school-age educare center. Das Schöne ist, dass sich durch die gemeinsame Lehrerbildung auch ein gemeinsames Bildungsverständnis entwickelt.

Buchcover "Beruf Erzieherin / Erzieher – mehr als Spielen und Basteln."
© Waxmann

Die school-age educare teacher können eine Zusatzqualifikation für praktische und ästhetische Fächer erwerben und besitzen auch damit die Lehrberechtigung für das Unterrichten dieser Fächer am Vormittag. Das führt dazu, dass sie eine Vollzeitstelle besetzen können und es nicht wie in Deutschland ist, wo sich die pädagogischen Fachkräfte ihr Pensum mit einigen Stunden am Nachmittag zusammensuchen müssen. Neben der Kooperation auf Augenhöhe erleichtert das in Schweden auch die Professionalisierung.

Online-Redaktion: Sie sind Sprecherin des Internationalen Forschungsnetzwerks Extended Education bei der World Education Research Association (WERA). Wie hat die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus aller Welt ihren Blick auf das Thema Ganztägige Bildung geprägt?

Schüpbach: Das Netzwerk ist aus dem kleineren Netzwerk NEO-ER hervorgegangen, ein Netzwerk von Bildungsforscherinnen und -forschern unter anderem aus Deutschland, Japan, Schweden, der Schweiz, Südkorea und den USA. Jetzt hat sich dieses Netzwerk für interessierte Personen aus der Bildungsverwaltung, der Politik und Schulleitungen geöffnet. Momentan haben wir 260 Mitglieder aus 33 Nationen.

Ich habe durch dieses Netzwerk gelernt, dass die Diskussionen um die pädagogische Einheit von Vor- und Nachmittag, wie sie in den deutschsprachigen Ländern geführt wird, nicht überall stattfinden. So werden in anderen Ländern teilweise After-School-Programme unabhängig von der Schule durchgeführt, es sind verschiedene Institutionen zuständig, und die Schule ist teilweise für den Nachmittagsbereich gar nicht verantwortlich. Solche strukturellen Unterschiede, aber auch Unterschiede bezüglich der Professionalisierung des Personals oder Diskussionen über die pädagogische Qualität von Angeboten, Projekten und AGs werden in den letzten Jahren verstärkt in den USA  und unterdessen weltweit diskutiert.

Das sind wichtige Elemente, von denen wir lernen und uns fragen können, wie wir sie – zum Beispiel aus dem schwedischen System – für uns passend machen könnten. Man kann nicht einfach alles von einem anderen Land eins zu eins übernehmen, weil Systeme, Traditionen, Mentalitäten und pädagogischen Einstellungen sehr unterschiedlich sein können, gerade wenn man zum Beispiel die asiatischen Länder betrachtet. Trotz allem kann man aber überall etwas mitnehmen, um für die Schülerinnen und Schüler das qualitativ bestmögliche Angebot an der Ganztagsschule für ihre schulischen Kompetenzen, für ihre soziale, emotionale und Persönlichkeitsentwicklung zu machen.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

 

Zur Person:

Prof. Marianne Schüpbach ist seit 2019 Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik an der Freien Universität Berlin. Nach dem Lehramtsstudium und der Tätigkeit als Lehrerin im Kanton Aargau (Schweiz) lehrte sie ab 2000 Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich und war von 2005 bis 2008 Professorin für Pädagogik an Pädagogischen Hochschulen in der Schweiz. Von 2010 bis 2014 war sie Assistenzprofessorin für Unterrichts- und Schulforschung an der Universität Bern und anschließend bis 2019 Professorin für Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik an die Universität Otto-Friedrich Bamberg. Von 2006 bis 2017 leitete sie an der Universität Bern die vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten EduCare-Studien zur Qualität und Wirksamkeit ganztägiger Bildung. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören auch die Wirksamkeit und pädagogische Qualität von Ganztagsschulen, die multiprofessionelle Kooperation und die Kooperation von Schule und Familie.

Sie ist Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung, der European Association for Research on Learning and Instruction, der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), des Verbands für schulische Tagesbetreuung Bildung + Betreuung (Schweiz) und des Netzwerks Kinderbetreuung (Schweiz). Sie ist Mitherausgeberin des „International Journal for Research on Extended Education‟ (IJREE) und Co-Chair des Netzwerks WERA-IRN EXTENDED EDUCATION.

Veröffentlichungen u. a.

Schüpbach, M. & Lilla, N. (Hrsg.). (2019). Extended Education from an international comparative point of view. Springer Verlag.

Schüpbach, M. (2018). A discussion about concepts and terms in the field of extended education. Special Issue of International Journal for Research on Extended Education, 6 (2).

Schüpbach, M. (2018). Extended Education from an International Comparative Point of View. Special Issue of International Journal for Research on Extended Education, 6 (1).

Schüpbach, M., L. Frei & W. Nieuwenboom (Hg.) (2018). Tagesschulen. Ein Überblick. Wiesbaden: VS Research, Springer Verlag.

Schüpbach, M., L. Frei, B. von Allmen & „. Nieuwenboom (2018). Beeinflussen Mehrsprachigkeit und die Nutzung von Tagesschulangeboten die Leseleistung? Mündliches Sprachniveau und Komposition der Schülerschaft als mögliche Wirkmechanismen. Zeitschrift für Grundschulforschung, 11, 161-173.
 

 

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