Effekte der Ganztagsschule als schulische Reform : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Auch bildungsökonomische Studien tragen zum Wissen über Ganztagsschulen bei. Dr. Larissa Zierow und Arnim Seidlitz fragen nach Effekten auf die Lernleistungen und die Verringerung von Ungleichheit im Bildungserfolg.

Arnim Seidlitz
Bildungsökonom Arnim Seidlitz © Arnim Seidlitz

Online-Redaktion: Herr Seidlitz, Frau Dr. Zierow, Sie sind von Hause aus Wirtschaftswissenschaftler und Bildungsökonomin. Was weckt Ihr Interesse am Thema Ganztagsschule?

Arnim Seidlitz: Der Ganztagsschulausbau gehört zu den wichtigsten Veränderungen im deutschen Schulsystem der vergangenen Jahrzehnte. Und unser Bereich der Bildungsökonomie befasst sich unter anderem damit, wie sich schulische Reformen auswirken, deswegen fanden wir es wichtig zu dem Thema zu forschen.

Larissa Zierow: Am Zentrum für Bildungsökonomik des ifo-Instituts untersuchen wir die Einflüsse unterschiedlich gestalteter Schulsysteme, zum Beispiel, welche Effekte diese darauf haben, wie gut die Jugendlichen auf den Arbeitsmarkt vorbereitet sind und wie zufrieden sie in ihrem Leben sind. Die Ganztagsschule finde ich aus Sicht der Ungleichheitsforschung, die ein wichtiger Forschungsbereich hier am Institut ist, sehr spannend. Die Gesellschaft möchte soziale und familienbedingte Ungleichheiten abschwächen, und hier liegt eine Funktion des Bildungssystems. Ganztagsschulen können, das ist international belegt, gute Effekte in der Minderung der Ungleichheiten erzielen: Wenn Kinder und Jugendliche mehr Zeit mit anderen Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Erzieherinnen und Erziehern verbringen, kann sie das positiv beeinflussen.

Online-Redaktion: Sie haben eine Studie „Verlängerung der Schultage – Verbessern Ganztagsschulen die Schülerleistungen?“ durchgeführt. Wie sind Sie methodisch vorgegangen?

Seidlitz: In diesem Bereich gibt es wenige quantitative Studien, und wir wollten diese Lücke füllen. Wir haben uns auf Daten des Nationalen Bildungspanels, kurz: NEPS, gestützt, die seit mehr als zehn Jahren erhoben werden, insbesondere auf repräsentative Daten von 5.000 Schülerinnen und Schülern, die 2012 eingeschult wurden. Hier handelt es sich um eine vielfältige Wiederholungsbefragung, an der Erziehungswissenschaftler, Soziologen und Psychologen und auch Wirtschaftswissenschaftler beteiligt sind. Befragt werden Schulleitungen, Eltern, Lehrkräfte. und ab der dritten Klasse auch die Schülerinnen und Schüler selbst. Die Schülerinnen und Schüler nahmen außerdem an standardisierten Tests teil.

Zierow: Die Daten haben wir mit den Daten aus dem Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) kombiniert, die anzeigen, wie viel Geld für Bauten und Ausstattung von Ganztagsschulen vom Bund an die Schulträger, bei Grundschulen sind das meist die Kommunen, geflossen ist. In Deutschland können Schülerinnen und Schüler nicht nur Ganztagsschulen besuchen, weil sie oder ihre Eltern das so wollen, sondern es hängt auch davon ab, ob es in ihrer Kommune ausreichend Plätze an Ganztagsschulen gibt. In einem ersten Schritt haben wir geschaut, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Kommune nach Erhalt der Fördermittel das Ganztagsplatzangebot erhöht hat und wie wahrscheinlich es ist, dass ein Kind die Ganztagsschule besucht. In einem zweiten Schritt wollten wir alles herausrechnen, was nur eine Korrelation verbesserter Schülerleistungen sein könnte – wenn zum Beispiel vorwiegend Schülerinnen und Schüler aus eher sozial privilegierten Familien zu den Angeboten angemeldet worden waren.

Online-Redaktion: Welche Schlüsse haben Sie ziehen können?

Schülerinnen bei der Hausaufgabenbetreuung
© Britta Hüning

Seidlitz: Es findet sich kein signifikanter Effekt des Ganztagsschulbesuchs auf Lernleistungen, wenn man die standardisierten Tests betrachtet. Aber in Deutsch und Mathematik verbessert sich die Einschätzung der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkräfte, die Noten verbessern sich. Das lässt sich dadurch erklären, dass die Lehrerinnen und Lehrer in der Ganztagsschule ein umfassenderes Bild von den Schülerinnen und Schülern erhalten. Sie nehmen dabei zum Beispiel stärker die Motivation und auch die sogenannten nicht-kognitiven Fähigkeiten besser wahr. In der Literatur gibt es Hinweise, dass die Lehrereinschätzung ein wichtiger Indikator für den späteren Bildungserfolg sein kann.

Zierow: Uns hat etwas überrascht, dass sich in den standardisierten Tests keine Effekte zeigten – weder in positiver noch negativer Hinsicht. Veränderungen zeigen sich an anderen Stellen. Neben der positiven Notenentwicklung äußern beispielsweise die Schülerinnen und Schüler, die die Ganztagsschule besuchen, häufiger als Halbtagsschülerinnen und -schüler, dass sie gerne zur Schule gehen. Die Zufriedenheit ist größer. Das kann verschiedene Gründe haben: die Entlastung bei Hausaufgaben durch die Hausaufgabenbetreuung in der Schule, die längere Einbettung im Klassenverband mit Freundinnen und Freunden oder die Angebote über den Unterricht hinaus durch nichtschulisches Personal.

Online-Redaktion: Wie sieht es mit der Verringerung der Ungleichheit aus?

Zierow: Die sehen wir nicht in den Daten. Das kann aber auch einfach daran liegen, dass in Deutschland der Ganztagsschulbesuch überwiegend freiwillig ist. Wenn Kinder und Jugendliche Angebote wählen, die sie sowieso schon gerne machen, kann es umgekehrt dazu führen, dass sie in ihren Stärken noch besser werden. Und grundsätzlich könnte ein Problem sein, dass bildungsaffine Eltern stärker hinterher sind, ihre Kinder in der Ganztagsschule anzumelden. Das ifo-Institut hat untersucht, welche Schülerinnen und Schüler im Sommer 2020 die Sommerschulen und Ferienkurse besucht haben, die dazu gedacht waren, Bildungsrückstände durch die Schulschließungen im Lockdown aufzuholen.

Das Ergebnis: Von der Gruppe der Akademikerkinder nahmen elf Prozent an solchen Kursen teil, von der Gruppe der Nichtakademikerkinder jedoch nur zwei Prozent. Nach allem, was wir wissen, welche Kinder im Distanzunterricht mehr Probleme hatten, müsste es eigentlich umgekehrt aussehen. Unsere Ergebnisse deuten für die Ganztagsschulangebote in die gleiche Richtung.

Gruppe
Wohlbefinden in der Schule nicht unterschätzen © Britta Hünig

Das Potenzial für mehr Bildungsgerechtigkeit ist vorhanden, und wir sollten die positiven Ergebnisse wie das stärkere Wohlfühlen in der Schule nicht geringschätzen und auch nicht, dass immer mehr Kinder und Jugendliche am Ganztag teilnehmen und die sich so erreichen lassen. Aber wahrscheinlich müsste die Ganztagsschule, um größere Effekte bei den Lernleistungen zu erzielen, verbindlicher werden und mehr Bildungsangebote durch die Lehrerinnen und Lehrer anbieten. Für Schülerinnen und Schüler, die Unterstützung benötigen, macht ein verstärkter Einsatz von pädagogischem Personal Sinn. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es Lehrermangel gibt, wir sehen das auch in unseren Daten, und es deshalb gar nicht so einfach ist, zusätzliche Stunden in Ganztagsangebote zu geben.

Seidlitz: In der ökonomischen Literatur gibt es auf jeden Fall gute Anzeichen, dass die Ganztagsschule auch erfolgreich darin gewesen ist, die Erwerbstätigkeit von Müttern zu ermöglichen und zu erhöhen.

Online-Redaktion: Und es gibt Effekte auf die sozio-emotionale Entwicklung?

Zierow: Verbessertes Arbeitsverhalten, größere Aufmerksamkeit und die Freude am Lernen spielen in die verbesserten Noten hinein, sodass man von einem indirekt sichtbaren Effekt sprechen kann.

Online-Redaktion: Werden Sie an dem Thema Ganztag dranbleiben?

Zierow: Ich habe hier zum Beispiel Kontakte zu bayerischen Politikerinnen und Politikern, die immer wieder fragen, ob wir nicht noch mehr zu dem Thema sagen und auch regionale Analysen liefern können. Ich würde gerne weiter erforschen, welche Effekte der Ganztag hat. Bis jetzt scheitern mögliche folgende Projekte daran, dass es zu wenige Daten gibt. Wenn Datensätze bereitgestellt werden, die Informationen zum Ganztagsschulbesuch und Informationen zu Schülerleistungen enthalten, würde ich sehr gerne damit arbeiten. Ich rechne damit, dass der geplante Rechtsanspruch auf Ganztagsschulplätze in Grundschulen auch die Frage der Effekte neu aufwerfen wird.

Seidlitz: Das Thema Ganztag ist so wichtig, dass dort mit dem weiteren Ausbau weitergeforscht werden muss.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Arnim Seidlitz, Jg. 1991, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Er studierte Volkswirtschaftslehre im Bachelor an der TU Berlin und anschließend im Master an der Universität Bonn. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ifo-Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München und ist an verschiedenen Forschungsprojekten mit Daten des Nationalen Bildungspanels beteiligt. 

Dr. Larissa Zierow, Jg.1985, ist seit 2018 stellvertretende Leiterin des ifo Zentrums für Bildungsökonomik und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie studierte als Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes von 2006 bis 2011 Wirtschaftswissenschaften an der Universität Witten-Herdecke und an der Universität St. Gallen. Von 2012 bis 2017 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Bevölkerungsökonomik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie ist u.a. Gutachterin für Fachzeitschriften wie „Labour Economics“, „Journal of Population Economics“ und „Empirical Economics“.

Die Studie „Effekte der Ganztagsschule auf die kognitive und sozio-emotionale Entwicklung von Grundschulkindern“ präsentierten beide u. a. auf dem Bildungspolitischen Forum „Bildung braucht mehr als einen klugen Kopf“ (PDF, 2MB, nicht barrierefrei) des Leibniz-Forschungsverbundes Bildungspotenziale (LERN) im Oktober 2019 in Berlin.

Veröffentlichungen u.a.:

Seidlitz, A. & L. Zierow (2020). The Impact of All-Day Schools on Student Achievement - Evidence from Extending School Days in German Primary Schools. CESifo Working Paper No. 8618. München.

Seidlitz, A. (2017). An Early And Lasting Advantage? – Long Term Effects Of The School Starting Age. The Bonn Journal of Economics IV (2)

Fitzenberger, B. & A. Seidlitz (2020). The 2011 Break in the Part-Time Indicator and the Evolution of Wage Inequality in Germany. Journal for Labour Market Research, 54(1) 
Bossler M., B. Fitzenberger & A. Seidlitz (2020). Neues zur Lohnungleichheit in Deutschland. ifo-Schnelldienst 02/2020

Mergele, L., J. Raith & L. Zierow (2020). Gleicht Schulbildung soziale Unterschiede aus? Wirtschaftsdienst 100 (12), 932–936.

Grewenig, E., P. Lergetporer, K. Werner, L. Wößmann & L. Zierow (2020). COVID-19 and Educational Inequality: How School Closures Affect Low- and High-Achieving Students. CESifo Working Paper No. 8648. München

Heisig, K. & L. Zierow (2020). Elternzeitverlängerung in der DDR: Langfristig höhere Lebenszufriedenheit der Kinder. Dresden: ifo.

Zierow, L. (2017). Ökonomische Perspektiven auf die Einflüsse der öffentlichen Kinderbetreuung und des Schulwesens auf Bildungserträge in der Kindheit und im Erwachsenenalter. (ifo Beiträge zur Wirtschaftsforschung 76) München: ifo.

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