Der Hort im Ganztagsangebot : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Ist der Hort ein Bildungsort für die Kinder oder ein Service für die Eltern? Prof. Thomas Markert hat über ein Jahrzehnt die sächsischen Ganztagsangebote und insbesondere die Kooperation von Grundschule und Hort untersucht.

Online-Redaktion: Herr Prof. Markert, 2013 sagten Sie, dass 20 Jahre Hort in Sachsen gleichbedeutend mit 20 Jahren Suche nach der Rolle des Hortes zwischen Schule, Ganztagsangeboten und Familie seien. Wo hat der Hort seinen Platz?

Klettergelände im Innern
Hort in Leipzig am Nachmittag © FRÖBEL-Kinderwerkstatthaus "Groß Und Klein" Leipzig

 

Thomas Markert: Also, wenn ich mal spitzfindig sein darf: den Hort gibt es in Deutschland und auch in Sachsen nicht. 2015 haben Hans Gängler und ich einen Artikel veröffentlicht, den wir deshalb auch etwas ironisch mit „Die Horte und sein Bildungsauftrag“ überschrieben haben. Aufgrund regionaler Traditionen sind die Horte in Deutschland ganz verschieden ausgeprägt. Die Frage, welche Rolle „der“ Hort im ganztägigen Erziehungs- und Bildungsauftrag spielt, ist daher ebenso differenziert zu beantworten. An einzelnen Standorten hat er seinen Platz gefunden, generalisierend lässt sich das nicht sagen.

Vielleicht kann man grob einteilen, dass es im Osten Deutschlands nach wie vor eine ganztägige Bildung in der Grundschule am Vormittag und im Hort am Nachmittag gibt, während es im Westen Deutschlands eher Grundschulen gibt, die eine ganztägige Bildung in Eigenregie über den Mittag hinaus organisieren, und dort die Horte als eigene Akteure teilweise in einer Konkurrenzsituation stehen. In manchen Bundesländern sind die Horte in den letzten 15 Jahren sogar komplett verschwunden. Seine Funktion ist dort in den Ganztagsgrundschulen aufgegangen, wie in Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen zum Beispiel.

Die Träger der offenen Kinder- und Jugendarbeit sind mit dem Aufkommen und der zeitlichen Ausdehnung der Ganztagsschule unterschiedlich umgegangen. Aber die meisten haben begriffen: Der einzige Ort, wo man insbesondere im ländlichen Raum noch Kinder trifft, ist oft die Schule. Und darauf haben sich die Anbieter eingestellt, sind mit ihren Angeboten dorthin gekommen und Kooperationen eingegangen. Ich habe aber auch schon Leute getroffen, die mir gesagt haben: „Das mit der Ganztagsschule, das ist jetzt so ein Feuer, und wenn das verlodert ist, ist es wichtig, dass wir noch einen offenen Jugendtreff haben.“

Online-Redaktion: Wie sehen Sie die Situation ganz aktuell?

Markert: Mit der Diskussion der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsschulplatz für Grundschulkinder ist der Hort plötzlich wieder in den Blickpunkt geraten. Drei Einflussfaktoren spielen hier eine Rolle: Wie wollen Eltern, wenn sie berufstätig sind, ihre Kinder betreut sehen? Zweitens: Wie weit deckt die Grundschule den Tagesablauf ab? Und: Wie viel bleibt an – sozusagen restlicher – Zeit dann für den Hort? Wobei: Selbst wenn der Hort hier zeitlich „überflüssig“ würde, wird er es doch nie ganz, denn dann stellt sich noch immer die Frage nach der Ferienbetreuung, die Schulen ja nicht immer leisten können.

In meinen verschiedenen Forschungsvorhaben ist an vielen Stellen deutlich geworden, dass die Rolle des Hortes als eigenständige Institution immer davon abhängig ist, wie umfangreich Schule sich zeitlich ausdehnt. Der Hort lebt von seiner kompensatorischen Funktion. Die Entwicklung eines eigenen Profils als Bildungsort ist da sehr schwierig. Wozu brauchen Grundschulkinder eine zweite Bildungsinstitution? Und wenn sie diese benötigen – was passiert dann mit den Schülerinnen und Schülern, die nicht in den Hort gehen? Es ist ein Paradoxon, und die Horte sind politischen Gestaltungsprozessen besonders ausgeliefert.

Online-Redaktion: Mal positiv gewendet: Wie würde es denn aussehen, wenn der Hort seinen Platz in der Ganztagsbildung gefunden hat?

Bausteine
„Ganz verschiedene Standortkulturen“ © Britta Hüning

Markert: Ich kann ein Beispiel nennen aus meinem Forschungsprojekt „Das Ganztagsangebot von Grundschule und Hort zwischen Bildungsprogrammatik und akteursgebundenen Entwürfen“ in Sachsen. Ich bin damals tief in die verschiedenen Standortkulturen eingetaucht, weil ich wissen wollte, warum es in Sachsen bei gleicher bildungs- und sozialpolitischer Förderstruktur an den Standorten so völlig verschiedene Konzepte der Kooperation von Grundschule und Hort gab, die sich nicht aus der Steuerung erklären ließen. 

In ethnografischen Forschungsaufenthalten an den Grundschulen und Horten habe ich untersucht, woran sich die Akteure vor Ort bei der Gestaltung ihres Konzeptes orientieren. Was sind ausschlaggebende Ereignisse, Traditionen, Personen, Motive, die erklären, dass man es genau so und nicht anders macht? Bei diesem Beispiel befanden sich Grundschule und Hort im selben Gebäude. Das Ganztagsangebot lag hier in der Gestaltungsverantwortung des Hortes. Die AG-Angebote, die sonst in einer offenen Ganztagsschule organisiert werden, waren hier in einem „Bildungstag“ in den Hort integriert. Der Hort hatte damit eine verantwortliche Rolle und fühlte sich dadurch auch anerkannt.

Online-Redaktion: Gibt es bei aller Vorsicht der Verallgemeinerung Faktoren, die eine solche Kooperation begünstigen?

Markert: Die Anerkennung der Eltern gegenüber den verschiedenen Angebotsformen spielt sicher eine Rolle. An einem Standort wollte der Hort gerne den Mittwochnachmittag zur Verfügung haben, um mit den Kindern partizipative Aktionen zu gestalten. Dazu sollte der Tag hausaufgabenfrei bleiben. Der Horttag und hausaufgabenfreie Tag war bis dahin eigentlich der Freitag, womit den Familien ein hausaufgabenfreies Wochenende garantiert war. Die Hortmitarbeiterinnen hatten aber kritisiert, dass am Freitag viele Eltern ihre Kinder früh abholten und so den Horttag beeinträchtigten. Die Horterzieherinnen wollten daher lieber in der Woche mit den Kindern etwas planen.

Das führte wiederum zu Widerspruch bei den Eltern. Es gab eine Umfrage mit dem Ergebnis, dass der Hort seinen Tag nicht am Mittwoch durchführen durfte. Das Bildungsangebot des Hortes musste hier gegenüber der Serviceleistung des hausaufgabenfreien Wochenendes zurückstecken. Das wirft die spannende Frage auf, ob der Hort ein Ort für die Kinder ist, der sich an ihren Bedarfen orientiert, oder ob er eine Serviceorganisation für die Eltern ist. Natürlich könnte die Schule an so einem Punkt, indem sie dem Hort klar die Position eines Bildungsakteurs zuschreibt und den gesamten Prozess steuert, den Eltern klarmachen, dass es hier nicht „nur“ um ein bisschen Spielen und Basteln geht. Tut die Schule das nicht, ist der Hort den Elterninteressen ausgeliefert.

Ein weiterer Faktor ist das wechselseitige Verständnis der unterschiedlichen Teams. Wenn Schulleitungen, Lehrerinnen, Erzieherinnen und sozialpädagogische Fachkräfte gemeinsam Ideen entwickeln und einen pädagogischen Faden spinnen, dann entwickelt sich die Kooperation. Existiert dagegen auf der Leitungsebene ein Konkurrenzdenken, wird es schwierig. Auch fehlende Räumlichkeiten für den Hort und eine Doppelnutzung von Klassenzimmern erschweren die Arbeit des Hortes.

Online-Redaktion: Sie sprechen von regionalen Unterschieden. Müsste man im Vergleich der Horte in Ost- und in Westdeutschland nicht sogar so weit gehen, dass sie sich nur bedingt vergleichen lassen?

Schülerinnen und Schüler im Sandkasten der Schule
...sondern ein Ort für die Kinder. © Britta Hüning

Markert: In Ostdeutschland gab es die Tradition des Schulhortes, der in der DDR eine nachgeordnete Einrichtung innerhalb der Schule war. Im Westen war der Hort noch in den 1980er Jahren eher eine Betreuungseinrichtung für „die schwierigen Fälle‟ oder die „Schlüsselkinder“. Gut, jetzt sind 30 Jahre seit der Wende vergangen. Die Unterschiedlichkeit zeigt sich aber immer noch mindestens markant in den Teilnahmezahlen: Für die ostdeutschen Länder muss man sagen, dass bei Teilnahmequoten von teilweise über 90 Prozent nicht mehr geht. Da gibt es keinen Ausbaubedarf mehr wie in den meisten westdeutschen Ländern.

Online-Redaktion: Sie haben geschrieben, der Begriff „Ganztagsangebote“ sei problematisch. Warum?

Markert: Wenn wir uns an den Anfang der Ganztagsschuldebatte Anfang der 2000er Jahre zurückerinnern, sollte die Ganztagsschule insbesondere kompensatorisch der Bildungsbenachteiligung entgegenwirken, beispielsweise bestimmter Schülergruppen. Aber wer entscheidet denn bei den zumeist offenen Ganztagsschulen darüber, ob und welche Angebote die Schülerinnen und Schüler wahrnehmen? Das sind die Eltern. Und jetzt ist die große Frage, ob und wie Eltern begleitet werden, Angebote zu wählen, von denen die Lehrkräfte meinen, dass es ratsam ist, dies zu tun.

Die offene Ganztagsschule ist, um es mal so auszudrücken, ein besonders kundenorientiertes Modell. Dieses Modell setzt voraus, dass die Eltern die Kompetenz haben, für ihre Kinder die richtigen Bildungsentscheidungen zu treffen. Nun ist aber der Ausgangspunkt der Ganztagsschule doch genau, dass wir unterstellen, dass sie das nicht können – Stichwort „bildungsferne“ Eltern. Meiner Ansicht nach müssten die Ganztagsangebote viel stärker durch begleitende Beratungsangebote für die Eltern ergänzt werden, um deutlich zu machen, warum bestimmte Angebote für ein Kind richtig und wichtig sind. Das vermisse ich stark.

Online-Redaktion: Sie sind inzwischen nach Neubrandenburg gewechselt, und Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Schulsozialarbeit. Was erforschen Sie momentan?

Sportunterricht
Der Hort ist ein Bildungsakteur. © Britta Hüning

Markert: Ich untersuche derzeit, wie die Schulsozialarbeit in Mecklenburg-Vorpommern aufgestellt ist. Gerade habe ich ein Forschungsprojekt zu der Frage begonnen, wie Schulsozialarbeit in einer ländlichen Region sozialraumverankert sein kann. Das beginnt in dünnbesiedelten Regionen schon damit: Wie definiere ich in einem Umkreis von 15 Kilometern rund um eine Schule den Sozialraum? Und was bedeutet dann sozialraumverankerte Schulsozialarbeit?

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Prof. Dr. Thomas Markert, Jg. 1973, ist Diplom-Sozialpädagoge und seit 2020 Professor für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit, Bildung und Erziehung mit dem Schwerpunkt Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit an der Hochschule Neubrandenburg. Nach dem Studium der Sozialen Arbeit an der Hochschule Mittweida – University of Applied Sciences arbeitete er mehrere Jahre als Schulsozialarbeiter an einer sächsischen Mittelschule. Von 2002 bis 2007 war er Doktorand an der Technischen Universität Dresden und Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Erziehungswissenschaften der TU Dresden. Von 2017 bis 2020 vertrat er die Professur für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit, Bildung und Erziehung mit dem Schwerpunkt Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit an der Hochschule Neubrandenburg. Er war an zahlreichen Forschungsprojekten zum Thema Ganztagsschule und Hort beteiligt, darunter „Wissenschaftliche Begleitung im Rahmen der bundesweiten 'Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen' (StEG) im Freistaat Sachsen“, „Ist-Standanalyse zur Zusammenarbeit zwischen Grundschule und Hort im Rahmen des Ausbaus von Ganztagsangeboten im ländlichen Raum im Freistaat Sachsen‟ (2008-2009) und „Das Ganztagsangebot von Grundschule und Hort zwischen Bildungsprogrammatik und akteursgebundenen Entwürfen“ (2010-2013).

Veröffentlichungen u.a.:

Markert, T. (2021): Der Hort im Ganztag. In: Graßhoff, G. & M. Sauerwein (Hg.): Rechtsanspruch auf Ganztag. Zwischen Betreuungsnotwendigkeit und fachlichen Ansprüchen. Weinheim: Beltz Juventa, 81-95.

Markert, T. (2017): Lehrerinnen und Erzieherinnen doing Ganztagsschule. Analysen zur administrativen Rahmung und standortspezifischen Gestaltung von Grundschule und Hort.
Weinheim & Basel: Beltz Juventa.

Gängler, H., K. Weinhold & T. Markert (2013): Miteinander-Nebeneinander-Durcheinander? Der Hort im Sog der Ganztagsschule. Neue Praxis, 2, 154-175.

Gängler, H. & T. Markert (Hrsg.) (2011): Vision und Alltag der Ganztagsschule. Die Ganztagsschulbewegung als bildungspolitische Kampagne und regionale Praxis. (Studien zur ganztägigen Bildung.) Weinheim und Basel: Juventa.

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