Schulpreis-Double: Ganztag auf den Spuren des FC Bayern : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Individualisiert und inklusiv arbeitet die Otfried-Preußler-Grundschule im teilgebundenen Ganztag mit dem Turn-Klubb Hannover und sieht kindgerechtes Gestalten als gemeinsame Aufgabe. 2020 gelang ihr ein Schulpreis-„Double“.

Zum Double fehlte nur ein klitzekleiner Schritt. Denn als es im Juni 2020 um den 11. Deutschen Schulsportpreis, den der Deutsche Olympische Sportbund und die Deutsche Sportjugend seit 2003 vergeben, ging, mussten der Turn-Klubb zu Hannover (TKH) und die Otfried-Preußler-Schule nur die „Konkurrenz“ aus Quedlinburg, die Sine-Cura-Schule und den BRSV SINE-CURA, vorbeiziehen lassen. Vor der Gemeinschaftsschule Probstei und dem TSV Schönberg erreichten sie den 2. Platz. 

Wenige Wochen später dann stand die Grundschule aus der niedersächsischen Landeshauptstadt noch einmal ganz oben auf dem Treppchen: Im September gewann sie den Deutschen Schulpreis, den mit 100.000 Euro dotierten Preis der Robert-Bosch-Stiftung und der Heidehof-Stiftung, der damit schon zum fünften Mal nach Niedersachsen geht. Der Schulpreis galt unter anderem der „Schule im Aufbruch“, die kontinuierlich ihre Qualität verbessere, und den Arbeitsgemeinschaften, die das Selbstbewusstsein der Kinder stärken, wie es in der Laudatio hieß. 

„Wurzeln geben, Vielfalt leben“

Kollegium
© Joachim Weber

388 Schülerinnen und Schüler besuchen die inklusive und barrierefreie teilgebundene Ganztagsgrundschule. Sie folgt mit ihrem 78 Personen starken multiprofessionellen Team dem Leitgedanken „Wurzeln geben, Vielfalt leben“. In vier Lernhäusern, benannt nach Figuren aus den Kinderbüchern des Namensgebers, des Kinderbuchautors und früheren Lehrers Otfried Preußler (1923-2013), lernen Hexen, Räuber, Gespenster und Wassermänner, zum Teil jahrgangsübergreifend, immer individualisiert und inklusiv.

Was das bedeutet, erfährt, wer mit Inken Meyer, der „Inklusionsbeauftragten“ der Schule und Mitglied des Leitungsteams um Schulleiterin Alexandra Vanin und ihre Stellvertreterin Konstanze Netzel, spricht. Die Anzahl von Kindern mit diagnostiziertem Förderbedarf möchte sie gar nicht nennen. „Wir wollen keine Stempel. Schließlich haben alle Menschen Potenziale und in irgendeiner Form einen Förderbedarf“, betont sie mit fester Stimme und klarem Blick. 

Dem stimmen Sophie Misterek, Jolanda Brückner und Kai Sievert ausdrücklich zu. Sie sind aktuell sozusagen die „Damen und der Herr“ im Schulbüro des Ganztags, der vom Turn-Klubb zu Hannover getragen wird. Der Verein organisiert den Ganztag an mehreren Schulen, beispielweise an der Heinrich-Wilhelm-Olbers-Grundschule, der Grundschule am Welfenplatz, der Grundschule Loccumerstraße und der Grundschule Tiefenriede. In der Otfried-Preußler-Schule ist er fester Bestandteil des multiprofessionellen Teams und sorgt sich in besonderer Weise um die Gesundheitsprävention der Schülerinnen und Schüler. Ihre Leitbilder führten Schule und Verein zusammen, bei allen wichtigen Sitzungen sitzen beide Partner mit am Tisch. Auch ein Grund, warum die Schulsportpreisjury diese Schule so weit vorne sah.

Barrierefrei auch im Denken

In die Bewegungsaktivitäten werden alle Kinder einbezogen – sei es in die Sportangebote im Rahmen der Arbeitsgemeinschaften oder beim „Austoben“ auf dem großen Schulgelände des hochmodernen Neubaus mit seinen zahlreichen Klettermöglichkeiten oder in der flexibel nutzbaren Dreifachturnhalle. Letztere wird, wenn gerade keine schulische Veranstaltung ansteht, unter anderem von den Bundesligabasketballerinnen des TKH zum professionellen Training genutzt. 

Lesegruppe
Lesepaten der 3. Klasse lesen der 1. Klasse vor. © Otfried-Preußler-Schule

Übrigens: Selbstverständlich entwickelt der Ganztagsträger auch spezielle Sportangebote für Kinder mit körperlicher Beeinträchtigung – etwa Judo für sehbehinderte Kinder. So barrierefrei wie das Gebäude sind auch die Gedanken der hier Tätigen. In Anlehnung an einen alten Werbeslogan könnte man diese unter das Motto: „Geht nicht, gibt`s nicht“ stellen. 

Der Schulalltag dieser Grundschülerinnen und -schüler dokumentiert es. Wenn Marie* eine Auszeit benötigt, bekommt sie sie. Ihre Klassenkameraden nehmen darauf Rücksicht, ziehen sich zurück, wenn sie einnickt. Die Türen aller Klassenräume stehen immer offen. Müssen sie auch. Denn der Wechsel von Raum zu Raum ist gewünscht. 

Grundwortschatz Gebärdensprache

Dem morgendlichen Gesprächskreis, in dem die Tagesstruktur besprochen wird, folgt bis 9.30 Uhr eine Einführungssequenz für die einzelnen Fächer. Womit sich jeder einzelne in der sich anschließenden Lernzeit beschäftigt, bleibt ihm oder ihr überlassen. Wählt ein Schüler Deutsch, wechselt er in den Raum, in dem ihn die pädagogische Deutschfachkraft erwartet. Erscheint einer Schülerin das Rechnen wichtiger, sucht sie das entsprechende Zimmer auf. Die auf Sinnesorgane ausgerichteten Arbeitsmaterialien findet sie in der entsprechenden Schublade. 

„Diese Selbstständigkeit erfordert ein hohes Maß an Sicherheit“, weiß Inken Meyer. Die wird den Kindern unter anderem durch die identische Gestaltung der Räume und Einrichtungen gegeben. 25 Schulassistentinnen und -assistenten unterstützen die Lehrkräfte bei der individuellen Begleitung als „Lernbegleiter“. „Natürlich benötigen unsere Schülerinnen und Schüler dabei manchmal ein wenig Anleitung“, weiß Inken Meyer. Will heißen: Entscheidet sich jemand allzu oft hintereinander für ein Fach in der Lernzeit, wird er oder sie schon einmal ein wenig „geschubst“, auch einmal anderes anzugehen. 

TKH Preis
© Florian Petrow

Doch Inken Meyer und Kai Sievert haben die Erfahrung gemacht: „Die Kinder, wissen, wann und wo sie sich ihr Wissen beschaffen müssen und können.“ Das gilt auch für jene Schülerinnen und Schüler mit einem besonderem Förderbedarf. Um alle Kinder stets einbinden zu können, verfügen dank „Crashkursen“ und gelebter Praxis alle Lehrkräfte und alle Schülerinnen und Schülern über einen Grundwortschatz an Gebärdensprache. Erklärt wird, bis jeder signalisiert, dass er es verstanden hat. Und im Zweifelsfall lässt das Kind eine Leuchte an seinem Rollstuhl aufleuchten, um darauf hinzuweisen, dass es noch eine Information benötigt.  

Selbstständigkeit mit klaren Zielvorgaben

Die Freiwilligkeit und Selbstständigkeit sind kombiniert mit klaren Zielvorgaben. Was es zu erreichen gilt, visualisiert eine „Drehscheibe“ in jedem Raum für jedes Quartal. Doch Hans* muss nicht zum gleichen Zeitpunkt wie Semir* die Ziellinie überqueren. Durchaus möglich, dass er das Ziel für das letzte Quartal des zweiten Schuljahrs erst ein Jahr später oder auch schon ein halbes Jahr früher abhaken kann. 

„Wenn sich ein Kind in einem Thema sicher fühlt, spricht es uns an und wir ermöglichen ihm die Lernzielkontrolle“, berichtet die Inklusionsbeauftragte. Eine Note wird dafür nicht vergeben. Vielmehr erhalten Schülerinnen, Schüler und ihre Eltern differenzierte Berichte. Ein Prozedere, mit dem sich manche Mütter und Väter anfangs schwer tun. Doch das ausführliche Lernbuch macht es auch ihnen leichter, den Weg ihres Kindes nachzuvollziehen. Es dient dazu, den Schulalltag und die individuelle Lernentwicklung zu organisieren und zu dokumentieren. 

Woche für Woche werden die Wochenziele notiert. Ob das jeweilige Ziel auch erreicht wurde, schätzen die Kinder selbst ein, mit Formulierungen wie: „Ich habe meine Lernzeit genutzt…“, „Ich war aufmerksam und habe anderen geholfen…“, „Darauf bin ich stolz…“. Nicht jede weiterführende Schule konnte sich bislang mit diesem System der Leistungsbeurteilung anfreunden – was den ohnehin anstrengenden Wechsel nach der Grundschule zusätzlich „belasten“ kann, wie Inken Meyer aus ihrer Erfahrung weiß. „Doch an diesem Bruch arbeiten wir, sprechen mit den Kolleginnen und Kollegen. Manche hospitieren inzwischen sogar bei uns“, verrät sie. Um zugleich zu betonen: „Unsere Kinder haben durch die große Selbstständigkeit des Lernens auch gelernt, ,stopp, ich habe das noch nicht verstanden` zu sagen.“ Das hilft, in der weiterführenden Schule zurechtzukommen.

Frei-Day und vielfältige AGs

Dazu trägt mit Sicherheit auch der wöchentliche Frei-Day bei. In den wöchentlichen drei Stunden suchen sich die Kinder ein Thema rund um die Global Goals, die 17 UN-Ziele der Bildung für nachhaltige Entwicklung, an dem sie alleine oder in Gruppen über einen beliebig langen Zeitraum arbeiten, bewertungsfrei. Auch dieser Tag dient dazu, „die Leidenschaften der Kinder zu beobachten und zu fördern“, sagen Inken Meyer und Kai Sievert. Die Themen des Sachunterrichts werden in quartalsweise stattfindenden Projektwochen erforscht. 

Ball
© Joachim Weber

Die Förderung zur Selbstständigkeit gelingt. Das spüren die hier tätigen zwölf festen Fachkräfte und acht weitere Mitarbeiterinnen des Vereins, wenn sie die jährlichen, künstlerische ebenso wie musische oder hauswirtschaftliche Aspekte aufgreifenden Arbeitsgemeinschaften planen. Dazu gehören beispielsweise Trampolinspringen, Chearleading, Jazz-Dance oder die italienische Sportart Tamburello und ebenso die Fußball- und die Floorball-AG oder Fechten. Immer wieder und immer mehr bieten auch Schülerinnen und Schüler aus den höheren Jahrgängen eigene AGs an. Nicht zu vergessen „Ottis Eck“, der von den Schülerinnen und Schülern betriebene Schulkiosk. Ein Beleg für Partizipation und Demokratieverständnis. 

Für Karl Schilling, den „Chefkoordinator Ganztag“ im Turn-Klubb Hannover, steht fest: „Das kindgerechte Gestalten ist eine gemeinschaftliche Aufgabe der Schule und der Träger des Ganztags. Wir reden alle über Konzepte, wie der Unterricht aussehen muss. Doch wie fühlen sich überhaupt die Kinder darin. Diese Frage sollte beantwortet werden, damit wir mehr im Sinne des Kindes denken.“ Wenn dies gelingt, dürfte sich die Otfried-Preußler-Schule bald als FC Bayern München unter den Schulen fühlen. Auch ohne Double. 

*Name von der Redaktion geändert

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