Ganztag in Wellen : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

„Verstecken“ kann sich hier keiner im Unterricht. Und sogar Sommerhausaufgaben gibt es. Die Inselschule Baltrum besuchen derzeit 38 Schülerinnen und Schüler – doch das moderne Konzept ist erfolgreich.

Luftbild der Insel Baltrum
Ca. 650 Menschen wohnen auf Baltrum... © Olaf Klün

Dr. Thomas Mronga erahnt wohl meine Gedanken, als er anbietet, seine Klasse während unseres Gesprächs in eine andere Klasse zu schicken. „Keine Sorge“, beruhigt er, „da hocken jetzt nicht 50 oder 60 Schülerinnen und Schüler in einem viel zu kleinen Raum.“ Er schiebt lachend hinterher: „Die Klasse besteht aus vier Schülern.“

Mronga leitet eine besondere Schule – die Inselschule Baltrum. Hier unterrichten sieben Lehrerinnen und Lehrer 38 Schülerinnen und Schüler – von der ersten bis vierten Klasse halbtags, ab Klasse 5 ganztags. Die Inselschule ist im Bereich der Oberschule seit 2012 eine teilgebundene Ganztagsschule. Der Begriff Zwergschule kommt einem in den Sinn. Doch die Inselschule Baltrum ist keine Einklassenschule, sondern eine moderne Grund- und Oberschule mit allen Klassenstufen, nur eben mit kleinen Klassen.

Das Profil, die tägliche Arbeit und die Ausstattung der Bildungseinrichtung, die aus drei Gebäudekomplexen besteht, sprechen für sich. Das älteste Gebäude ziert der von Schülern so gerne gehörte Spruch: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben...“. Er könnte auch an dem zwischen 1975 und 1979 erbauten Schulhaus oder an dem 2014 sozusagen als modernes Bindeglied entstandenen Teil stehen. Er spiegelt die pädagogische Haltung des Kollegiums wider. „Wir schauen auf jedes einzelne Kind. Das ist der Vorteil einer solch kleinen Schule“, sagt der Schulleiter, der schon mal wie alle in seinem Team mindestens sieben Fächer unterrichtete.

Wenn die Mutter die Tochter unterrichtet...

„Das kann man auch anders sehen“, meinen Alina (15) und ihre drei Freundinnen. Sie bilden die 9. Klasse. „Wir können uns nicht verstecken, wir kommen sehr oft dran“, erzählt Alina. Das freut sie besonders, wenn der Schulleiter unterrichtet. Er ist ihr Vater. Kann man da neutral sein? „Ja“, ist Dr. Mronga, dessen Töchter alle die Inselschule besucht haben, sicher. „Ich bin bei den Töchtern eher strenger.“ Was nicht für Prüfungen gilt. Die werden grundsätzlich familienfremd abgenommen.

Kollegium und Schülerinnen und Schüler der Inselschule beim Mittagessen
© Hannah Feldmann

Alina aber weiß: „Dafür kann ich zu Hause nachfragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe.“ Das kann Hannah (14) auch. Ihre Mutter ist ihre Lehrerin. Sie hat es als einzige geschafft, einmal aus dem Klassenraum geschickt zu werden. Sie konnte einen Lachanfall nicht stoppen. Ihrer Mutter platzte der Kragen. Wer glaubt, an der Inselschule gehe alles nur lustig, familiär und harmonisch zu, täuscht sich. Dr. Mronga: „Wir sind eine Schule. Die Kinder sollen etwas lernen – fachlich wie sozial. Und manchmal gibt es dann eben auch einen Anpfiff.“

Sommerhausaufgaben: „Mach' ein Foto vom Sonnenuntergang“

In der Regel aber herrscht eine freundliche und harmonische Atmosphäre. Die Klassentüren stehen offen. Wer etwas Ruhe bei der eigenen Arbeit sucht, findet einen Platz an Tischen auf dem Flur. Der Kopierraum ist für jeden zugänglich – auch für die Schülerinnen und Schüler. Eine Sekretärin gibt es ebenso wenig wie einen Hausmeister. Thomas Mronga: „Wenn wir Hilfe brauchen, rufen wir den Bauhof der Gemeinde. Und die erledigen das richtig gut.“

Strahlend kommen Grundschulkinder aus dem Kopierraum. In den Händen halten sie ihre Sommerhausaufgaben: „Schau mal, Herr Mronga, was wir Tolles machen sollen.“ Die Sommerferien währen in der Inselschule Baltrum nur vier Wochen. Nahezu alle Eltern sind im Tourismus tätig. Da fährt selten jemand weg. Dafür gibt es zwei Wochen Zeugnisferien im Februar. Die Sommerhausaufgaben der Kinder für 2019 lauten etwa: „Laufe über Sand, durch Wälder und über Hügel!“ Oder: „Spritze mit Wasser.“ Oder: „Mach’ ein Foto vom Sonnenuntergang und singe mit den Vögeln um die Wette.“

Was nicht auf ihrem Zettel steht: die Teilnahme am Segelkurs. Dieser richtet sich an die etwas Älteren und wird in Kooperation mit dem KSV Baltrum e.V. und dem Baltrumer Bootsclub e.V. von der Seglerin Sabine Meyer angeboten. Der Kurs, an dem zehn Schülerinnen und Schüler mitwirken, zieht sich bis in die schulfreien Wochen. Die Insel schafft somit ihr eigenes Ferienprogramm für die Insel-Kinder.

Schule in Wellen

Blick aus dem Computerraum auf die Kletterwand
© Hannah Feldmann

Sport, insbesondere Wassersport, prägt das ganze Jahr der Inselschule. Vom modern ausgestatteten Computerraum sieht man auf die Kletterwand, vom Lehrerzimmer erblickt man Wattenmeer und Fußballplatz. Ein Kicker steht im Vorraum, der Basketballkorb lädt zum Wurftraining ein. Und manchmal, wenn alles passt, bietet die Schule eine Surf-AG an. Ulfert Mammen, der Vorgänger von Dr. Mronga, der sich auch hartnäckig eingesetzt hatte, dass aus der ehemaligen Hauptschule eine Oberschule wurde, hatte die AG ins Leben gerufen. Jetzt soll sie wiederbelebt werden.

„Schule, ihre Entwicklung und Angebote verlaufen in Wellen. Mal hoch, dann etwas flacher, dann wieder hoch“, wählt der Schulleiter ein schönes und passendes Bild für eine Schule, die von Wasser umgeben ist.

Fester Bestandteil der Angebote für die Schülerinnen und Schüler sind die 21 Sparten des Kultur- und Sportvereins. Vorsitzender: Dr. Thomas Mronga. Für 2 Euro pro Monat dürfen die Kinder und Jugendlichen dort jede Sportart des Vereins ausprobieren. Sie schätzen auch die Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Turnerbund, der ihnen in seiner auf der Insel beheimateten Jugendbildungsstätte regelmäßig das Klettern ermöglicht. Und besonders beliebt: Im Sportunterricht werden – mangels einer Tanzschule in der Nähe – auch Standardtänze gelernt. Bedauerlich für Alina, Emma, Hannah und Lucy ist nur: „Es gibt keine gleichaltrigen Jungs.“

Durchaus stolz sind Kollegium, Eltern und Schülerschaft auf das Abschneiden beim Niedersächsischen Schulwettbewerb des Deutschen Sportabzeichens. Drei Jahre in Folge belegte die Inselschule Baltrum Platz eins, weil 95 Prozent der Schülerinnen und Schüler die sportlichen Anforderungen erfüllten. Auch weil die Schule auf das Individuum schaut: Wer nicht gut laufen kann, darf schwimmen, sagen die Regularien. „Und das können die Insulaner“, weiß Dr. Thomas Mronga.

Weltnaturerbe Wattenmeer und ein hochmoderner Fachraum

Schüler der Inselschule auf dem Fußballplatz
© Hannah Feldmann

So wie er um die Bedeutung von Kunst, Kultur und Musik weiß. In seinem Leitungszimmer steht die Gitarre, im Förderraum ein Klavier. Und sie stehen nicht nur da – sie werden intensiv genutzt. Für Aufsehen und große Zustimmung sorgte beispielsweise vor zwei Jahren Shakespeares „Sommernachtstraum“ auf der Inselbühne. Zehn Schülerinnen konnten echte Theaterluft schnuppern und als Elfen tanzend und singend ihr künstlerisches Können auch vor Touristen zeigen.

Letztere scheuten sich bis vor kurzem nicht, möglichst nahe an diese besondere Schule heranzutreten und durch die Fenster in die Klassenzimmer zu schauen. „Da kam man sich ein wenig wie im Zoo vor“, erinnert sich der Schulleiter. Seitdem eine ehemals als Gemüsebeet geplante Fläche zu einem Außen-Klassenzimmer umgebaut wurde, ist es nicht mehr möglich, dass sich die Touristen ihre Nasen an den Klassenfenstern plattdrücken.

Hätten die Urlaubsgäste die Gelegenheit, würden sie sicher um das Gebäude herum marschieren und in den naturwissenschaftlichen Fachraum schauen. Und staunen. Sie sähen hochmoderne Arbeitsplätze mit herunterklappbaren Gas- und Stromanschlüssen, Internetzugang und Steckdosen, die Experimente vom Feinsten ermöglichen. Die technischen Möglichkeiten haben sich herumgesprochen. Bis in die Schweiz. Der Leistungskurs einer Schweizer Schule nutzte die Arbeitsplätze kürzlich für Untersuchungen im Weltnaturerbe Wattenmeer.

Per Videokonferenz aufs Festland

Im 10. Schuljahr können sich die Schülerinnen und Schüler der Inselschule zweimal wöchentlich nachmittags per Videokonferenz in den Mathe-, Physik- und Chemieunterricht des Niedersächsischen Internatsgymnasiums Esens einwählen. So bekommen diejenigen, die ihre Schullaufbahn am Gymnasium fortsetzen wollen, schon einmal ein Bild vom dortigen Stoff und Arbeitsstil.

Unterricht in der Inselschule Baltrum
Physikunterricht mit Schulleiter Dr. Mronga © Hannah Feldmann

Allen Schülerinnen und Schülern der Inselschule und nicht nur denjenigen, die das Abitur anstreben, ermöglicht eine intensive Berufsvorbereitung den Einblick ins Leben nach der Schule. Den Zukunftstagen in Klasse 5 und den Betriebspraktika auf der Insel in Klasse 8 folgen eine Potenzialanalyse, Einblicke in die unterschiedlichsten Berufe in der Kreisvolkshochschule Norden des Landkreises Aurich sowie dreiwöchige Betriebspraktika in Betrieben auf dem Festland.

Für die Zukunft wünscht sich Dr. Thomas Mronga noch ein ganzheitliches Konzept für den Außenbereich der Schule. Und etwas philosophisch: „Dass die Wellen, auf denen wir surfen, viele wertvolle Erkenntnisse für unsere Schulentwicklung an Land spülen.“

 

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