Heinrich-von-Stephan-Schule: Eine Gemeinschaft in Moabit : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die Heinrich-von-Stephan-Schule in Berlin galt einmal als „Wunder von Moabit“. Immer wieder brach sie zu neuen Ufern auf. Jetzt ist sie Gemeinschaftsschule mit gebundenem Ganztag.

Gruppenfoto des Kollegiums der Heinrich-von-Stephan-Schule
Das Kollegium der Heinrich-von-Stephan-Schule © Heinrich-von-Stephan-Schule

Wer Christine Frank, die Schulleiterin der Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule, und Mittelstufenkoordinatorin Bianka Hantel über ihre Schule sprechen hört, der spürt vor allem eines: Leidenschaft. Den beiden Pädagoginnen liegt die gebundene Ganztagsschule in Berlin-Moabit am Herzen. Sie verschweigen nicht die Probleme, denen sich ihre Schule noch gegenübersieht, und sie sind stolz auf ihre Erfolge.

Als die Heinrich-von-Stephan-Schule 2008 in das Pilotprojekt Gemeinschaftsschule einstieg, hatte sie schon einen Ruf in Berlin. Aus der einstigen Hauptschule war eine integrierte Haupt-Realschule entstanden, die mit ihrem Leistungsanspruch als „Wunder von Moabit“ bekannt wurde und 1999 vom Bundespräsidenten den deutschen Hauptschulpreis erhielt. Die Besonderheit war, dass Haupt- und Realschülerinnen und -schüler zusammen eine Klasse besuchten – etwas, was zuvor viele nicht für machbar gehalten hatten. Die Schule führte einen Wahlpflichtbereich ein, den sonst nur die Berliner Realschulen hatten, um zum Beispiel eine zweite Sprache anzubieten.

Das Sitzenbleiben war abgeschafft worden, die Ergebnisse bei den mittleren Schulabschlüssen konnten sich sehen lassen, die Zahl der Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss hatte sich deutlich verringert. So war es also nicht verwunderlich, dass die Heinrich-von-Stephan-Schule sich um Teilnahme am Pilotprojekt Gemeinschaftsschule bewarb – wer, wenn nicht sie? Seit 2003 ist die Schule auch Mitglied im Arbeitskreis „Blick über den Zaun“, einem bundesweiten Verbund reformpädagogisch engagierter Schulen.

2010 brach die Schule zu „neuen Ufern“ auf. Sie verließ ihren bisherigen Standort in der Stephanstraße, ihre neue Adresse lautet seitdem „Neues Ufer 6“. Das altehrwürdige Schulgebäude stammt aus dem Jahr 1912. Kürzlich hat die Schule einen Neubau mit zwölf Räumen für die Grundstufe erhalten. „Aber unser Gebäude bleibt eine klassische Flurschule“, meint Mittelstufenkoordinatorin Bianka Hantel. Für sie macht es das „schwierig, modernen Unterricht umzusetzen“.

Enge Bindung zu den Schülerinnen und Schülern

Schülerinnen und Schüler in der Lernwerkstatt
Interessengeleitet, fächerverbindend und eigenverantwortlich: die Lernwerkstatt Heinrich-von Stephan-Schule © Heinrich-von-Stephan-Schule

Im Schuljahr 2013/2014 wurde schließlich die Oberstufe eingerichtet. Und im Schuljahr 2016/2017 die ersten Erstklässler eingeschult. 560 Schülerinnen und Schüler lernen derzeit an der Schule. Rund 900 werden es sein, wenn die Jahrgänge komplett sind. „Wir sind gut nachgefragt“, freut sich Christine Frank.

„Das Herzstück unserer Schule ist die enge Bindung zum Schüler“, meint die Schulleiterin. „Und zu den Eltern. Viele Eltern sind verunsichert. Eine konstante und stabile Betreuung ist da unglaublich wichtig. Wir alle – Lehrer, Erzieher und Sozialpädagogen – kümmern uns, gucken hin und beraten.“ Zweimal im Schuljahr gibt es Schüler-Eltern-Lehrer-Gespräche. Die Schülerinnen und Schüler stehen dann im Mittelpunkt. Hier reflektieren sie ihre Lernprozesse und setzen sich Ziele.

Zum Team gehören Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Sozialpädagoginnen und –pädagogen. Im Rahmen des Programms „Jugendsozialarbeit an Berliner Schulen“ kooperiert die Schule mit dem SOS-Kinderdorf Berlin. Der Verein Frecher Spatz e.V., hervorgegangen aus der Berliner Kinder- und Schülerladenbewegung, bringt sich vor allem in der Grundstufe ein. In der Grundstufe sind eine Klassenlehrkraft und eine Erzieherin oder ein Erzieher für je eine Klasse verantwortlich. Auch in der Mittelstufe wird jede Klasse im sogenannten Teamteaching geleitet, ebenso in der Oberstufe. So sind ein enger Bezug und eine individuelle Beratung und Unterstützung gewährleistet.

Zu den Ganztagsangeboten in der Grundstufe gehört die Kooperation mit ALBA Berlin im Programm „Alba macht Schule“. Ein Trainer von ALBA arbeitet sogar im Sportunterricht mit und bietet zusätzlich die AG Basketball beziehungsweise Ballspiele für die Kleinen an.

2017 erhielt Heinrich-von-Stephan-Schule Besuch von der Berliner Schulinspektion. In fast allen Qualitätsbereichen schnitt sie mit „A“ ab. Als besondere Stärken sah die Inspektion die „Schulgemeinschaft, die einen wertschätzenden Umgang miteinander lebt“, ein Kollegium, das aktiv mit hohem Engagement arbeitet, die festen Teamstrukturen und die individuelle Rückmeldung an die Schülerinnen und Schüler, deren Unterstützung und Beratung. Entwicklungsbedarf gibt es laut Christine Frank noch im Unterricht und bei der Individualisierung der Lernprozesse.

Binnendifferenziertes Lernen

Die Schule beteiligt sich unter anderem am Programm „LiGa – Lernen im Ganztag“, um die Qualität weiterzuentwickeln und neue Ansätze für individualisiertes Lernen zu erproben. Mit vielfältigen Lehr- und Lernformen will die Schule der Vielfalt der Schülerinnen und Schüler künftig noch besser gerecht werden. „Wir wollen das selbstbestimmte Lernen stärken. Und die Differenzierung“, berichtet die Schulleiterin.

Grafik mit dem Ganztagskonzept für die Mittelstufe
Rhythmisierter Schultag an der Heinrich-von-Stephan-Schule © Heinrich-von-Stephan-Schule

Jeder Tag startet mit dem 15-minütigen Morgenkreis beziehungsweise dem „Meeting“ in der Oberstufe. Bianka Hantel berichtet: „Hier werden Ereignisse des Vortags besprochen, Informationen für die Woche vermittelt, Dienste wie der Mensadienst eingeteilt, aktuelles Tagesgeschehen diskutiert, der Klassenrat und schließlich freitags ein Wochenrückblick veranstaltet.“

In „TÜV – trainieren, üben, verstehen“ lösen die Schülerinnen und Schüler in Deutsch, Englisch und Mathematik Übungen auf verschiedenen Niveaustufen. In der Grundstufe und in der Mittelstufe wird jahrgangsübergreifend in sogenannten binnendifferenzierten Lernumgebungen gelernt. Hier sind jeweils zwei Lehrkräfte in den Klassen. Auch im Unterricht unterstützen Förderpädagoginnen und -pädagogen einzelne Schülerinnen und Schüler und beraten bei der Erstellung von Förderplänen.

Im Wahlpflicht-Unterricht der Mittelstufe können sich die Schülerinnen und Schüler entweder für eine zweite Fremdsprache – Französisch oder Spanisch – entscheiden oder ein Angebot aus dem künstlerischen, musischen, handwerklichen, ernährungswissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen oder sportlichen Bereich wählen.

An vier Tagen in der Woche dauert der Unterricht bis 15.45 Uhr. Die Tage sind rhythmisiert: 90-minütiger Fachunterricht wechselt sich mit Frühstück, Sportzeit, Pausen, Wahlpflicht, der Übungszeit „TÜV – trainieren, üben, verstehen“ und der Lernwerkstatt ab. Nach dem Mittagessen und vor dem letzten Unterrichtsblock gibt es eine bewegte Pause, die CTägliche Sportzeit“. Mittwochs hat das Kollegium am Nachmittag seine Teambesprechungszeit. Die Schülerinnen und Schüler können mittwochs auch an Freizeitangeboten teilnehmen, die vom Kooperationspartner SOS Kinderdorf sowie den Lernpaten angeboten werden.

„Challenge: Woche der Herausforderung“

Schülerinnen und Schüler auf der Berlinale
Schülerinnen und Schüler der Oberstufe im Berlinale-Fieber 2018. © Heinrich-von-Stephan-Schule

„In den Lernwerkstätten wird eine hohe Methodenkompetenz von den Lehrkräften gefordert“, betont Christine Frank. Über mehrere Stunden forschen die Schülerinnen und Schüler zu einem selbst gewählten Thema. Sie erarbeiten sich fächerverbindend eigene Inhalte und Methoden in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit, recherchieren selbstständig, planen Exkursionen oder führen Experteninterviews durch. Als Ergebnis entsteht eine Forschermappe. „Hier arbeiten alle eng, fleißig und engagiert zusammen‟, hat Christine Frank beobachtet. Am Ende der Lernwerkstatt gibt es immer „schöne Momente“, wenn die Schülerinnen und Schüler stolz ihre Ergebnisse präsentieren, sagt die Schulleiterin.

„Wir haben unsere Schülerinnen und Schüler den ganzen Tag. Da liegt es in unserer Verantwortung, die Zeit mit einem qualitativ hohen Angebot zu füllen“, betont die Schulleiterin. „Wir müssen den Ganztag so gut machen, dass die Schülerinnen und Schüler finden, dass es ihre Zeit wert ist, bei uns zu verbringen.“ Das funktioniere nicht als Einbahnstraße. „Partizipation wird bei uns gelebt. Wir sind stark darin, die Schüler einzubinden.“ Wir stellen ihnen die Frage, wenn sie zum Beispiel etwas im Klassenrat beschlossen haben: Was passiert jetzt als nächstes an unserer Schule? Und was wollt ihr dazu beitragen?“

In der Mittelstufe findet einmal im Jahr die „Woche der Herausforderung“ statt. Bianka Hantel sieht darin eine ganz besondere Zeit: „Wir schenken den Schülern eine Woche.“ In der Oberstufe weitet sich dies auf zwei Wochen zur sogenannten „Challenge“ aus, über die die Schülerinnen und Schüler dann auch eine Facharbeit schreiben. In diesem Zeitraum stellen sich die Jugendlichen einer selbstgewählten Herausforderung. Eine Mädchengruppe zog sich zum Beispiel eine Woche auf eine Datscha ohne jegliche Kommunikationsmittel zurück. Andere Schüler haben einen Raum in der Schule renoviert. Drei Schüler sammelten Geld, um Spielsachen für ein Flüchtlingsheim zu kaufen.

In anderem Rahmen lernen: Landschaftsbauprojekt

Eine weitere Besonderheit ist in den Klassen 7 und 8 die Teilnahme am Landschaftsbauprojekt. Die Jugendsozialarbeit des Kooperationspartners SOS-Kinderdorf sitzt in Gatow. Dort lernen die Schülerinnen und Schüler den Umgang mit Werkzeugen oder Geräten, bauen Werkstücke, arbeiten im Garten und im Wald oder basteln mit Naturmaterialien. Dabei müssen sie sich selbst versorgen.

Luftbild vom Neubau der Heinrich-von-Stephan-Schule
... wird um einen Ergänzungsbau erweitert. © Heinrich-von-Stephan-Schule

„Es ist gut, dass die Jugendlichen hier mal andere Berufe sehen und in einem ganz anderen Rahmen lernen. Das schweißt die Klasse zusammen“, findet Christine Frank. „Manche Schüler finden es toll, andere haben sogar Angst davor, in den Wald zu gehen – da zeigt sich die ganze Bandbreite unserer Schülerinnen und Schüler. Wir diskutieren derzeit, ob wir das Projekt auf andere Jahrgangsstufen ausweiten sollten.“

Nachholbedarf sah die Schulinspektion bei der Evaluation schulischer Entwicklungsvorhaben und bei der Fortschreibung des Schulprogramms. Das weiß auch die Mittelstufenkoordinatorin. „Wir haben mal eine Umfrage unter den Kolleginnen und Kollegen gemacht, da hatten alle andere Erwartungen. Und manche sagen auch: Warum sollte ich etwas verändern? Es läuft doch.“

Christine Frank und Bianka Hantel haben noch viele Ideen. Sieht man die Leidenschaft, mit der sie von ihrer Schule erzählen, wird die Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule sich immer wieder neu erfinden.

 

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