13. NOVEMBER 2007
2. Bremer Ganztag: Der Balanceakt Partizipation
Ganztagsschulen bieten einen günstigen Rahmen zur Realisierung von selbstständigem und selbstverantwortlichem Lernen. Auf dem 2. Bremer Ganztag "Selbstbestimmtes Lernen" der Serviceagentur "Ganztägig lernen" am 10. und 11. Oktober 2007 zeigten Workshops, Vorträge und Schulbeispiele Aspekte und Instrumente des selbstbestimmten Lernens auf.
"Ich übernehme in der Schule Verantwortung, weil ich gerne anderen helfe und in meiner Schule mitarbeiten möchte und sie verbessern will", sagt der 15-jährige Kolja. Andreas, 16 Jahre alt, findet es wichtig, dass man sich gegenseitig hilft. Schließlich Natalie, ebenfalls 15 Jahre alt: "Ich übernehme Verantwortung in der Schule, weil ich Spaß daran habe. Ich helfe gerne anderen und finde es gut, wenn sie dadurch besser in der Schule werden. Und manchmal lerne ich auch selber noch was dazu."
Die drei Jugendlichen gehören zu einer Gruppe von etwa 35 Schülerinnen und Schülern der 8. bis 10. Klassen an der Paula-Modersohn-Schule, einer Gesamtschule in Bremerhaven, die an dem Projekt "Wir sind gut?!", einem Kooperationsprojekt mit dem Stadtjugendring Bremerhaven, teilnehmen. Die Zusammenarbeit mit dem Stadtjugendring begann mit der Ausbildung von Schülerinnen und Schülern, die an der Schule so genannte Studiengruppen ehrenamtlich leiten, zu Mentorinnen und Mentoren im Nachmittagsbereich der Ganztagsschule. Diese gehören neben den Streitschlichtern und Schulsanitätern zu den "Schülerinnen und Schülern in Verantwortung" an der Schule.

Begrüßung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch das Serviceagentur-Team Sandra Reith, Sabine Heinbockel und Stefan Siefert (v.l.)
"Wir sind gut?!" soll es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, ihre Beteiligung in der Schule zu analysieren und zu reflektieren. Ziel ist es, die Partizipation auch auf den Unterricht zu übertragen. Daneben soll die bereits bestehende Partizipation verbessert und neue Schülerinnen und Schüler für dieses Engagement gewonnen werden.
Selbstbestimmung und Schule - ein Widerspruch?
Mitbestimmung im Unterricht - funktioniert das überhaupt? Oder anders gefragt: "Selbstbestimmung und Schule: Ein Widerspruch?" So lautete der Titel des Eingangsvortrags der Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Ursula Carle von der Universität Bremen auf dem 2. Bremer GanzTag. "Dem Gefühl nach ja", beantwortete Prof. Carle die von ihr aufgeworfene Frage vor rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Lernpsychologisch sei es erwiesen, dass "Zwang die Bereitschaft vermindert, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen". Besser sei es, wenn Schulen Lernangebote unterbreiteten.
Kernziele von Bildung seien Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit: "Bildung ist ein Prozess, in dem der Mensch die Verfügung über sich und die Welt erweitern lernt - und zwar zur Steigerung der Lebensqualität - und zunehmend besser in die Lage kommt, alle verfügbaren Ressourcen zu mobilisieren", definierte die Wissenschaftlerin.


Ansichten aus Wissenschaft und Praxis: Ursula Carle (l.) von der Universität Bremen und Joachim Wolff von der Paula-Modersohn-Schule in Bremerhaven
"Die Selbstbestimmung zielt auf Kompetenzen, sie erfordert aber auch Strukturen und Ressourcen", führte Prof. Carle aus. In diesem Zusammenhang müssten noch viele Fragen geklärt werden: Wie viel Freiraum benötigt die Schule? Wie viel Kontrolle braucht sie, wie viele Ressourcen? Wer aber kann den Freiraum gewähren und wer die Kontrolle ausüben? Und woher sollen die Ressourcen kommen - "gerade in Bremen"?
Auch Dr. Joachim Wolff, Jahrgangsleiter der Klassen 5 bis 7 in der Paula-Modersohn-Schule, ist überzeugt, dass Selbstbestimmung und Partizipation mit Kompetenzen zu tun haben. Es gehe auf dem Weg zu einer Schule des Mitbestimmens zunächst darum, die eigenen Kompetenzen überhaupt erst einmal zu erkennen und sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck veranstaltete die Gesamtschule im Juli 2006 mit 30 Schülerinnen und Schülern eine "Wir-Werkstatt" unter der Fragestellung "Wie können Kinder in der Schule Verantwortung übernehmen?" Die Hamburger Pädagogin Yvonne Vockerodt begleitete die Werkstatt. Zusammen mit Joachim Wolff stellte sie in einem Workshop auf dem 2. Bremer GanzTag diesen Prozess vor.
Jugendliche als Experten ihrer eigenen Stärken
Bei der "Wir-Werkstatt" geht es im ersten Schritt darum, Stärken zu entdecken. In Partnerinterviews fragt man sich gegenseitig, welche Dinge das Gegenüber gut kann, worüber er oder sie viel weiß, was sie oder er gerne macht und was man von ihr oder ihm lernen kann. Dieses "wertschätzende Fragen" führte laut Wolff schon zu ersten Denkanstößen bei Kolleginnen und Kollegen. "Ich habe mir nie Gedanken gemacht, was gut an meiner Schule läuft", gab ein Lehrer zu. Joachim Wolff meinte dazu: "In diesem Staunen liegt eine Kraft, um Neues daraus zu gewinnen. Positive Bilder können eine große Organisationsmacht erlangen, ein schlechtes Selbstbild schwächt dagegen die Organisation."
Den Anstoß für die Veranstaltung der "Wir-Werkstatt" gab ein Preis, den die Schule vor zwei Jahren bei einem Wettbewerb gewonnen hatte. Mit dem Geld wollte die Schulleitung eine modularisierte Ausbildung für die "Schülerinnen und Schüler in Verantwortung" entwickeln. "Wir waren uns aber nicht darüber klar, wer was bestimmt und welche Stimme die Schüler dabei haben - und so entwickelte sich die Fragestellung, wie Kinder an unserer Schule Verantwortung übernehmen können", erklärte Wolff. "Eine Gelingensbedingung, hier weiter zu kommen, war das Zurücknehmen der Lehrer, der Wille, gemeinsame Beschlüsse mit den Schülerinnen und Schülern zu fassen, und auf dieser Ebene neue Rollen zu finden. Dabei sollten wir Erwachsenen nicht so tun, als ob alles möglich wäre - wir sollten ehrlich in unseren Rollen sein", so der Lehrer.
"Die Schülerinnen und Schüler sind nicht gleichberechtigt, aber gleichwertig", beschrieb Yvonne Vockerodt die Zusammenarbeit in der "Wir-Werkstatt". Jugendliche sollten hier als Experten ihre Stärken und ihren Stolz zeigen können. Sie könnten das Eigene für die Gemeinschaft gestalten und Anerkennung erfahren. Die Erwachsenen wiederum lernten die Stärken der Kinder aus deren Perspektiven kennen und könnten sich von diesen Stärken leiten lassen.
Partizipation heißt Pläne verwirklichen helfen
Nach dem "Erkunden" der eigenen Stärken in der "Galerie der Kräfte" folgten drei weitere Schritte: "Visionieren", "Gestalten" und "Umsetzen". Beim "Visionieren" bildeten sich an den verschiedenen Stärken orientierte Gruppen. Diese entwickelten Ideen, wie man die Stärken nutzen könnte, zu Hörspielen, Liedern und kleine Theaterstücke weiter. Beim "Gestalten" fasste man im Plenum konkrete Pläne. Hier bildeten sich unter anderem Ideen wie eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, das Wiederauflebenlassen von Schulpartys und die Bildung einer "Anti-Lehrerhasser-Gruppe" heraus. Im vierten und letzten Schritt der "Wir-Werkstatt" ging es um das "Umsetzen": Hier wurden Verantwortlichkeiten und Zeitrahmen besprochen. "Da lernt man nebenbei auch etwas über Projektmanagement, wozu ich sonst mit Kollegen Fortbildungen besucht habe", berichtete Wolff.
Auswirkungen der "Wir-Werkstatt" für die Paula-Modersohn-Schule sind nun monatlich stattfindende Treffen der Schüler in Verantwortung, eine "Party mit Vertrag", eine umfassendere Kommunikation mit den Lehrern - unter anderem durch Smileys, mit denen die Lehrerinnen und Lehrer am Anfang einer Stunde ihre Stimmungslage preisgeben - und das Entsenden einer Delegation von Schülerinnen und Schülern in die pädagogischen Arbeitsgruppen.
"Kleine Dinge wie die Smileys, um die es heftige Diskussionen im Kollegium gegeben hat, können schon große Wirkung erzielen", meinte Wolff. "Partizipation heißt nicht, die Kinder graben zu lassen, sondern ihnen Hilfe an die Hand zu geben, ihre Pläne zu verwirklichen", fügte der Stufenleiter hinzu. "Das Wichtigste ist, dass sich die Jugendlichen als wertvolle Individuen fühlen, die gehört werden."
Im Februar 2008 wird an der Paula-Modersohn-Schule ein Workshop stattfinden, der die Partizipation weiter verfolgen wird. Des Weiteren möchte man die "Wir-Werkstatt" professionenübergreifend im Stadtteil durchführen.
"Halbtagsschulen sind am Ende ihrer Kraft"
Das Öffnen in den Stadtteil ist für Bildungssenatorin Renate Jürgens-Pieper ein Merkmal guter Ganztagsschulen, der "Schulform der Zukunft". In ihrer Rede auf dem 2. Bremer GanzTag zeichnete sie auch das gegenwärtige Bild der Ganztagsschulen in der Hansestadt: "Jede dritte Schule ist bereits Ganztagsschule und pro Jahr kommen jeweils vier in gebundener Form dazu." Es sei nicht leicht, eine Halbtagsschule in eine Ganztagsschule umzuwandeln, aber "die Halbtagsschulen sind mit ihrer vollgepackten Stundentafel am Ende ihrer Kraft". Eine Ausweitung in den Nachmittag solle aber nicht ungeplant geschehen, sondern es müsse ein bildungspolitischer Anspruch dahinter stehen, weshalb auch Lehrerstunden in den Nachmittag hinein müssten. "Wir hoffen, skeptische Kollegen und Eltern für die Ganztagsschule zu gewinnen", so die Bildungssenatorin.


Bildungssenatorin Renate Jürgens-Pieper (l.) und Karsten Wolf von der Universität Bremen
Wie man Schülerinnen und Schüler motiviert, war Thema des Workshops "Langfristige Lernmotivation durch selbstbestimmtes Lernen?", der von Prof. Dr. Karsten Wolf von der Universität Bremen geleitet wurde. Der Bildungsforscher verwies auf eine von ihm durchgeführte Studie, in der sieben Klassen einer Berufsschule in Gießen ein Halbjahr lang begleitet wurden. Die Klassen, die in einem selbstorganisierten Unterricht lernen konnten, zeigten sich aufmerksamer und interessierter als die Schülerinnen und Schüler der Vergleichsklassen, die im Frontalunterricht saßen.
"Grundbedürfnisse wie Kompetenz erleben, Autonomie und soziale Eingebundenheit wurden durch den selbstorganisierten Unterricht mit Stationen lernen und Projektunterricht besser befriedigt", erklärte Wolf. "Um die Schülerinnen und Schüler zu motivieren, müssen die Lehrerinnen und Lehrer fehlerfreundliche Lernarrangements und nicht zu viel vorverdautes Wissen anbieten. Die Problemstellungen sollten authentisch und das Lernmaterial vielfältig sein." Der Wissenschaftler stellte fest, dass es ohne die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler an Planung und der Kontrolle der Lerninhalte keine Motivation geben werde. Das Potenzial der Ganztagsschule bestünde darin, die Geschwindigkeit des Lernens besser steuern zu können.
"Schülermeinungen werden ignoriert"
Viele Schülerinnen und Schüler können sich unterdessen über eine Mitbestimmung im Unterricht noch gar keine Gedanken machen, solange es noch grundsätzlich an Partizipationsmöglichkeiten fehlt, wie die Präsentation des Schüler-Workshops "Schülerbeteiligung" deutlich machte. Je vier Schülerinnen und Schüler aus fünf Bremer Ganztagsschulen hatten sich in dem Workshop Gedanken gemacht, mit welchen Elementen sie ihre Schulen partizipativer gestalten könnten.

Schülerinnen und Schüler aus fünf Bremer Ganztagsschulen machten sich über Schülerbeteiligung Gedanken und präsentierten ihre Ergebnisse dem Plenum
"Schülermeinungen werden ignoriert", beklagten die Jugendlichen. Schülerinnen und Schüler müssten stärker über ihre Rechte aufgeklärt werden, es sollten Schülerbeiräte, Schülerversammlungen und Schülerforen nur für Schülerinnen und Schüler einberufen werden können. Oder es sollte möglich sein, pro Jahrgang einen "Schüleranwalt" zu den Konferenzen zu entsenden.
Welche Möglichkeiten zur Verankerung von Partizipation im Schulalltag offen stehen, wird das Thema das Ganztagsschulkongresses im nächsten Jahr und ist auch Thema des aktuell laufenden Wettbewerbs "Zeigt her Eure Schule".
Autor/in: Ralf Augsburg
Datum: 13.11.2007
© www.ganztagsschulen.org
Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: http://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000