2. Transferforum "Ganztag in der Ausbildung" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Es gibt zwei Wirklichkeiten in Deutschland: Eine Schullandschaft mit inzwischen rund 50 Prozent Ganztagsschulen und daneben Universitäten, in deren Vorlesungsverzeichnis das Wort "Ganztag" nicht vorkommt. Was zu tun ist, um Lehramtsstudierende auf die veränderten Anforderungen des Lehrerberufs adäquat vorzubereiten, diskutierte das 2. Transferforum "Ganztag in der Ausbildung - Wie Lehrkräfte und andere Professionen vorbereitet sein sollten" der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung am 19. Mai 2011 in Halle an der Saale.

Als sich Nikola Poppendieck im vergangenen Jahr in ihrer Heimatstadt Wernigerode auf eine Stelle als Referendarin bewarb, stieß sie beim Betrachten der in Frage kommenden Schule Burgbreite schnell auf das Wort "Ganztagsschule". Als solche arbeitet die sachsen-anhaltische Sekundarschule seit 2004. "Ich wusste nicht viel über Ganztagsschulen", gibt die Referendarin zu, "in meinem Studium hatte es nur einmal ein Seminar zu diesem Thema gegeben." Jetzt musste die Studentin ihrem potenziellen Schulleiter Wolfgang Kirst all die Fragen zum Thema Ganztagsschule stellen, auf die sie durch ihr Studium nicht vorbereitet worden war: Wie lange muss sie an der Ganztagsschule präsent sein? Werden an einer Ganztagsschule Hausaufgaben gestellt? Welche zusätzlichen Aufgaben müssen die Lehrerinnen und Lehrer übernehmen?

Es scheint so, als gebe es im Jahr 2011 in Deutschland zwei Bildungswelten: In der einen arbeitet inzwischen fast jede zweite allgemein bildende Primar- und Sekundarschule als Ganztagsschule, wobei rund 8.000 Schulen eine Förderung aus dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) für Bauten und Ausstattung erhalten haben. In der anderen, der Welt der Hörsäle, findet das Thema "Ganztagsschule" fast nicht statt, werden die Lehramtsstudentinnen und -studenten in mehr oder weniger traditioneller Weise als Unterrichtsexperten ausgebildet.

Frau an einem Rednerpult
Maren Wichmann, Leiterin des Begleitprogramms "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" begrüßt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 2. Transferforums in Halle an der Saale © Alexander Janetzko

Dass die von Nikola Poppendieck gemachten Erfahrungen die Regel statt Ausnahme sind, bestätigte Prof. Dr. Jürgen Oelkers von der Universität Zürich, der in Halle den Hauptvortrag hielt. Der Wissenschaftler hat ausgewählte Studiengänge im Bereich der Lehrerinnen- und Lehrerbildung anhand ihrer aktuellen Vorlesungsverzeichnisse analysiert und festgestellt, dass beispielsweise von den rund 225 Veranstaltungen, welche die Fakultät für Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Sommersemester 2011 anbietet, gerade einmal drei einen Bezug zur Ganztagsschule haben. An der Universität Regensburg war es nur eine von 143 Lehrveranstaltungen. An den Pädagogischen Hochschulen Heidelberg und Ludwigsburg, an den erziehungswissenschaftlichen Fakultäten der Universität Leipzig, der TU Dresden, der Universität Frankfurt am Main, aber auch der Universität zu Köln, den Universitäten Münster, Dortmund und Gießen fanden sich keine speziellen Angebote für die Ganztagsschule in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung.

Fokus der Ausbildung liegt auf Fachunterricht im Klassenverband

"Das Tätigkeitsfeld des Lehrers wird an den Universitäten immer noch vom Schultyp und vom Fach definiert, ohne die veränderten Tätigkeitsbedingungen in einem Ganztagsschulbetrieb in Rechnung zu stellen", resümiert der Professor für Erziehungswissenschaft. "Die Ausbildung hat noch nicht auf die besonderen Anforderungen einer Ganztagsschule reagiert, in der von Lehrerinnen und Lehrern mehr verlangt wird, als Unterrichtsstunden zu halten." An einem speziellen Lehramt für Ganztagsschulen fehle es bislang.

Hier und dort in der Republik haben Universitäten das Problem erkannt und bieten inzwischen Lehrveranstaltungen zum Thema an, beispielsweise die Pädagogische Hochschule Freiburg. In Kooperation mit den Serviceagenturen "Ganztägig lernen" organisieren einige Universitäten Ringvorlesungen über das Thema Ganztagsschule, die auch sehr gut nachgefragt sind, so beispielsweise das Institut für Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, das Institut für Schulpädagogik an der Universität Rostock, die Friedrich-Schiller-Universität Jena und die Universität Göttingen. Das Institut für Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel bildet in seinem Kompetenztraining "Pädagogik der Vielfalt" Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter zusammen aus.

Doch diese Beispiele bilden auch acht Jahre nach dem Beginn des IZBB noch Ausnahmen. Eine Umfrage an den Studienseminaren für das Lehramt der Primarstufe in Nordrhein-Westfalen förderte zum Beispiel zu Tage, dass der Einsatz von Studentinnen und Studenten nicht im außerunterrichtlichen Bereich stattfindet. "Der Fokus der Lehrerausbildung liegt klar auf dem Unterricht im Klassenverband", meint dazu der Grund- und Hauptschullehrer Hans Peter Bergmann von der Serviceagentur "Ganztägig lernen" Nordrhein-Westfalen. Im Seminarprogramm seien Ganztagsthemen nicht verankert und die Behandlung erfolge allein abhängig vom Interesse der Ausbilder. Ganztagsthemen seien nur gelegentlich Prüfungsgegenstand und würden oft von Studierenden selbst als Thema für die Abschlussarbeit eingebracht.

Qualität der Ausbildung beeinflusst Qualität der Angebote

Was muss getan werden, um mehr Ganztagsschulaspekte in der Lehrerausbildung zu verankern? Wie muss die Ausbildung der Professionen für die Ganztagsschule gestaltet sein, um angemessen auf den Wandel in der Schullandschaft zu reagieren? Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) veranstaltete am 19. Mai 2011 zusammen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das Transferforum "Ganztag in der Ausbildung - Wie Lehrkräfte und andere Professionen vorbereitet sein sollten" in Halle an der Saale. Wie im September 2010 auf dem 1. Transferforum in Frankfurt am Main ging es darum, Vertreterinnen und Vertreter aus Praxis, Verwaltung und Wissenschaft aus ganz Deutschland in einen Dialog zu bringen. Im Gegensatz zum Auftaktforum waren diesmal nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Erzieherinnen und Erzieher unter den rund 140 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in den Franckesche Stiftungen präsent.

Für Bettina Bundszus, Leiterin des Referats Frühe und allgemeine Bildung im BMBF, war die Veranstaltung "eine der wichtigsten, die wir in diesem Jahr durchführen". Die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) habe gezeigt, dass Ganztagsschulen das Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler verbesserten, Familien entlasteten und die Leistungen bei guter Qualität der Angebote steigerten. "Die Qualität ist entscheidend", so Bettina Bundszus, "und damit die Qualität der Ausbildung".

Es gebe bundesweit seit dem 1. Transferforum Initiativen, die zur Verbesserung der Lehrerausbildung beitragen würden: Neben den Ringvorlesungen verhandele im Saarland die Serviceagentur "Ganztägig lernen" mit dem Institut für Lehrerausbildung über gemeinsame Veranstaltungen, in Bremen seien die Praxisanteile in der Ausbildung erhöht worden und in Sachsen-Anhalt gebe es "vorbildhafte" Tandemfortbildungen von Lehrkräften sowie Sozialpädagoginnen und -pädagogen. "Das Zeitfenster für Veränderungen steht derzeit offen. Dies sollten wir nutzen, und das BMBF wird das Programm 'Ideen für mehr! Ganztägig lernen' daher auch weiterhin unterstützen", erklärte die Referatsleiterin.

Ausbildung muss auf veränderten Unterricht reagieren

In Sachsen-Anhalt hat die nach den Wahlen im März neu gebildete Koalition neben einem klaren Bekenntnis zum Ausbau der Ganztagsschulen ebenfalls beschlossen, größere Praxisanteile in der Ausbildung unterzubringen, wie Kultusminister Stephan Dogerloh in seinem Grußwort berichtete. "Es gibt noch einige dicke Bretter zu bohren", so der Minister. "Wir müssen unter anderem den gemeinsamen Unterricht und die individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen stärken sowie Konzepte erstellen, wie wir mit den verschiedenen Professionen an der Schule umgehen. Ebenso sind Strategien zu entwickeln, wie wir kompetente Partner in der Ganztagsschule einbeziehen. Die Lernkultur an den Ganztagsschulen muss gestärkt werden. Nicht überall, wo Ganztagsschule drauf steht, ist auch Ganztagsschule drin. Da gibt es noch viel zu tun."

Das sah auch Prof. Dr. Jürgen Oelkers in seinem anschließenden Fachvortrag so: "Die Schulen müssen sich auf einen Unterricht umstellen, der mehr ist als aufeinander folgende Lektionen mit Ermüdungscharakter - genau darauf hat die Ausbildung noch nicht reagiert." Dabei zeigten sowohl die StEG-Studie als auch eine US-amerikanische Studie zur vorschulischen Bildung aus dem Jahr 2006, dass die Zeit, die Kinder in pädagogisch hochwertigen Einrichtungen verbringen, in positivem Zusammenhang mit ihrer Leistungsentwicklung steht. Eine hohe Qualität der Angebote, so StEG, wirke sogar der in der Sekundarstufe I typischerweise einsetzenden sinkenden Motivation entgegen. "Dazu braucht es gutes Personal", konstatierte der Wissenschaftler.

Ein Redner vor zwei Pinnwänden
Arbeit in einem Workshop des Transferforums © Alexander Janetzko

Strukturell sei eine bundesweit koordinierte Veränderung der Lehrerausbildung schwer vorstellbar. "Die Ausbildungsgänge haben sich in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik nicht angenähert - im Gegenteil. Stattdessen ist es einfacher, die Ausbildungsgänge inhaltlich zu ändern. Dies sollte unter Einbeziehung der Studentinnen und Studenten geschehen, die bei den Veränderungen mitentscheiden sollten. Die Evaluation der Lehre spielt hier eine entscheidende Rolle", führte Oelkers aus. In der Ausbildung solle der Praxisbezug zu Ganztagsschulen gezielt gesucht und Ganztagsschulpraktika angeboten werden, in welchen die Studierenden mit Teamfähigkeit und ganzheitlicher Bildung in Berührung kämen.

Verbindliches Praktikum beugt falschen Erwartungen vor

Die Forderung nach mehr Praxisbezug und damit mehr Praktika zogen sich wie ein roter Faden durch das 2. Transferforum. So betonte Helmut Thiel, Schulleiter der Ganztagsschule "Johannes Gutenberg" Wolmirstedt, dass es "in der 1. Ausbildungsphase viel zu wenig Praktika" gebe: "Viele Studierende entwickeln dadurch falsche Erwartungen." Ulrich Selle, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Sozialpädagogik der Universität Kiel, sprach gar gleich von einer "Katastrophe, wie praxisfern die Studenten ausgebildet werden". Und durch den Wegfall des Zivildienstes wechselten jetzt noch mehr junge Menschen direkt von der Schulbank in den Hörsaal und wieder zurück in die Klassenzimmer.

Die Freiherr-von-Rochow-Schule, eine Oberschule im brandenburgischen Pritzwalk mit verpflichtenden Ganztagsangeboten ab der 7. Klasse, setzt Praktikantinnen und Praktikanten auch im Nachmittagsbereich ein. "Bei uns bekommen die jungen Erwachsenen alles mit und sehen, dass der Lehrerberuf inzwischen eine Präsenz in der Schule über den gesamten Tag mit hohen Anforderungen bedeutet", berichtete Schulleiterin Gisa Michaelis in einem Workshop. "Die Lernzeiten sind individualisiert, die Schülergruppen in Kursen jahrgangsübergreifend gemischt, es gibt fächerübergreifende Angebote, die den Einsatz mehrerer Kolleginnen und Kollegen erfordern."

Durch Netzwerke und Schulpartnerschaften würden heute viele gute Beispiele für eine gelungene Lehr- und Lernkultur an Ganztagsschulen weitergegeben, die laut Wunsch der Schulleiterin auch in der Ausbildung präsent gemacht werden sollten. Ebenso wünschenswert sei ein verbindliches Praktikum für Lehramtsstudierende. "Eine unserer Praktikantinnen entschied sich, nicht Lehrerin zu werden", berichtete Gisa Michaelis. "Sie hatte erkannt, dass das nichts für sie war."

Thementage und Hospitationen für mehr Praxisnähe

Thementage für alle Lehramtsanwärter, regelmäßige Hospitationen oder Hospitationswochen, für die ein Modul "Ganztagsschule" noch zu entwickeln sei, sind laut Hans Peter Bergmann Vorschläge der Serviceagentur "Ganztägig lernen" Nordrhein-Westfalen, wie sich die Lehrerausbildung praxisnäher gestalten ließe. Für die Hospitationen müssten noch Leitfäden entwickelt werden.

Nikola Poppendieck hat sich schließlich für das Referendariat an der Schule Burgbreite entschieden. Dass sie ihre Entscheidung nicht bereut, dokumentiert sie mit ihrem Beitrag auf dem Transferforum. Ihr Schulleiter Wolfgang Kirst formuliert, was Lehrerinnen und Lehrer an einer Ganztagsschule erwartet: "Es gibt eine engere Lehrer-Schüler-Beziehung, und die Kolleginnen und Kollegen haben mehr Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Umgekehrt werden hohe Anforderungen an ihre sozio-kommunikativen Fähigkeiten gestellt, an ihre Innovationsbereitschaft und Teamfähigkeit. Lehramtsanwärter sollten deshalb im Unterricht und im außerunterrichtlichen Bereich ausgebildet und eingebunden werden, damit sie dies alles mitbekommen."


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